Futura
- Die Drächin
Ein Jahr nach Tschernobyl
tauchte auf einer Anti-Atomkraft-Demonstration plötzlich eine riesige
Drächin auf. Sie hieß "Futura". Fünf Frauen
hatten ein Jahr lang an ihrer Entstehung gearbeitet. Fortan begleitete
Futura die Bewegung bei vielerlei Anlässen. Erst 2015 wurde sie feierlich
verabschiedet.
Aber dies war noch nicht das Ende: Anlässlich einer Ausstellungseröffnung
der "Galerie Futura/alpha nova" schrieb die taz (4.8.2016) unter
dem Titel 'Im Zeichen der Drächin': Die Figur selbst ist leider
seit Jahren verschollen, (...). Durch Zufall geriet dieser Artikel
in die Hände der Erfinderinnen. Und "weil alles was vor dem
Internet entstanden ist, sonst spurlos verschwindet", hat eine von
ihnen diese Geschichte aus der vordigitalen Welt für "Umbruch"
aufgeschrieben:
Es ist der 1. Mai 1986. In Berlin findet die alljährliche Demo
statt, an der ich teilnehme. Wenige Tage zuvor hatte sich die Katastrophe
im Atomkraftwerk Tschernobyl ereignet.
Noch gibt es nur wenige konkrete Informationen über deren Ausmaß.
Am Rande der Demo-Route entdecke ich einige Frauen, die Schilder mit Hinweisen
auf mögliche Folgen des GAUs hochhalten. Vage Besorgnis und Unruhe
begleiten mich danach.
Kurze Zeit später schlägt meine Stimmung komplett um. Ich bin
euphorisiert durch eine Erscheinung am Ende des Demo-Zuges: Ein Riesen-Haifisch
mit aufgerissenem Maul tanzt frech vor, über und neben dem obligatorischen
polizeilichen Begleitfahrzeug, und schnappt nach - ja, nach was? - Feinden
aller Art... Es ist eine gigantische bewegliche Figur, von vier jungen
Männern auf Stöcken getragen, so dass sie hoch über den
Köpfen der Menschen agiert. Mich durchfährt ein brennender Wunsch.
So was will ich auch haben! Für mehr Sichtbarkeit bei Demos, für
Aktionen, für was weiß ich. Unbedingt.
Ich wühle mich durch die Menge und frage einen der Träger, wie
der Hai gebaut wurde und von wem und wo. Matthias vom Wasserturm
kann ich verstehen, dann hastet er weiter, stoppen geht nicht, das Ding
ist schwer, und er muss ja mit den Anderen Schritt halten. Matthias
vom Wasserturm, mit dem für mich rätselhaften Mantra,
wende ich mich abends ratsuchend an meine Freundin D.. Die kennt den alten
Wasserturm in der Fidicinstraße in Kreuzberg und weiß auch,
dass es dort einen Jugendtreff gibt.
Tage später startet unsere Recherche vor Ort. Matthias hat einen
kleinen Weinladen, um die Ecke, erfahren wir. Wir finden ihn, der Besitzer
ist anwesend, heißt Matthias. "Ja, der Hai, also das ist ein
chinesisches Puppenbauprinzip, für große tragbare Figuren.
Das Volumen erreicht man durch Bambusringe verschiedener Größe,
die mit Strippen verbunden werden, Stoffplane anmalen, drüberziehen,
Stöcke in Pappröhren, die an den Ringen befestigt werden, stecken.
Fertig. Ganz wichtig: Das muss unter Zug gebaut werden!" Unter Zug.
Freundin D. nickt, na klar. Ich verstehe nur Bahnhof. Eine Zeichnung soll
helfen, auch mir das Prinzip zu erläutern. Das Ergebnis ähnelt
einem Regenwurm, der gerade einen großen Erdbrocken verdaut. Na
gut, wir werden sehen.
Der Rest der Geschichte sei hier eher im Zeitraffer erzählt. Einmal
wöchentlich trafen Freundin D. und ich uns mit drei weiteren Frauen,
um Stück für Stück die Hinweise von Matthias umzusetzen.
Sofort aber war klar, wir wollen keinen zweiten Hai. Wir wollen was eigenes,
was besser zu uns Frauen passt, was eine uns wichtige Symbolik verkörpert
- und was Leichteres!
Unklar in unserer Erinnerung ist, wer genau auf die Figur eines Drachens
kam. Sicher ist, dass wir einhellig sofort sagten, "weiblich natürlich".
Also eine Drächin.
In den folgenden Wochen und Monaten wurden die Nachrichten über den
GAU in Tschernobyl zahlreicher und detaillierter, die eigene Betroffenheit
größer. Es wuchs nicht nur unsere Figur sondern auch unsere
Klarheit, wofür wir sie brauchten: Die Drächin sollte feministischen
Widerstand gegen Atom- und anderen Männerwahn verkörpern.
Im Frühsommer 1986 gründete sich die Gruppe "Frauenfrühstück",
in der lesbische und Hetero-Frauen sich zusammen schlossen (damals noch
keine übliche Verbindung), um den Schock der Tschernobyl-Katastrophe
gemeinsam zu verarbeiten und in produktive Energie für Aufklärungs-
und Protestaktionen umzuwandeln. Freundin D. und ich nutzten ein Sabbatjahr,
um innerhalb dieser Gruppe, gemeinsam mit den anderen Frauen, Politik
beim Frühstück zu machen und Ideen für Aktionen auszuhecken.
"Mit List und Lust!", das war unser Motto.
Bald bündelten sich Einfälle und Energien, um den ersten Jahrestag
von Tschernobyl gebührend zu gestalten: im "Streik- und Verweigerungstag
der Frauen" am 27.4.87 (mehr darüber in: Fundorte - 200 Jahre
Frauenleben und Frauenbewegung in Berlin, Orlanda Verlag 1987). Und Futura,
so hieß unsere Drächin inzwischen, sollte bis dahin fertig
sein. Sie wurde es.
Ca. 10 Meter lang, transportfähig, sie passte in den Kofferraum eines
PKW-Kombi, dank ihres Bauprinzips: Stangen, Ringe, Strippen, leichter
Stoff, Kopf und Schwanz oben drauf.
Für unsere Aufrufe zum Verweigerungstag der Frauen schenkte uns Ingeborg
T. die Zeichnung einer Drächin, die in vielfältigen Variationen
Verwendung fand.
Futura hatte danach zahlreiche Auftritte bei Demos und Aktionen
die schönsten mit der Frauen-Samba-Gruppe von "Lärm und
Lust": Die Samba-Energie brachte Trägerinnen und Drächin
zum Tanzen! Themenschwerpunkte: Jahrestage von Tschernobyl, Anti-Atom,
Anti-IWF. Einmal war sie auch beim Castor-Protest im Wendland. Sie trat
auf bei verschiedenen Frauen-Aktionen, z.B. bei der Ausstellung "Kein
Ort nirgends?" im Bethanien und zuletzt bei der großen Anti-Atom-Demo
2009 in Berlin. Dabei gab es jeweils eine feste Gruppe von Trägerinnen,
die darauf achteten, dass die Schönheit Futuras möglichst immer
gut zur Geltung kam.
Der Kreis ihrer Verehrerinnen veränderte sich, löste sich teilweise
auf. Das Leben setzte sich an unterschiedlichen Orten fort. Die Drächin
wurde von H. noch einmal sorglich restauriert. Dann ruhte sie auf verschiedenen
Kleiderschränken, in verschiedenen Wohnungen, zuletzt in einem feuchten
Keller.
Ihre Pracht schwand. So wurden ihre Reste (müllgetrennt) feierlich
in kleinem Kreis im August 2015 im Hof der Regenbogenfabrik feuerbestattet.
Ihre Asche wurde vom Wasser des Landwehrkanals in die Weltmeere getragen.
Ciao, bella, ciao. - Antje K -
Kleiner historischer
Überblick
1986 |
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Idee und Erforschung
der Bauweise |
1986/87 |
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Bau
der Drächin und Namensgebung;
parallel: Gründung der Gruppe "Frauenfrühstück"
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1987
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Erster Auftritt Futura: Demo (25.04.) zum 1. Jahrestag Tschernobyl;
"Streik- und Verweigerungstag der Frauen" (27.04.)
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1987-1994 |
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Zahlreiche Auftritte
der Drächin auf Demos und Aktionen zu Anti-Atom u.a. |
1994 |
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Übergabe
der Drächin an jüngere Frauen |
2009 |
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Letzter Auftritt:
Anti-Atom-Großdemo in Berlin (05.09.) |
2015 |
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Abschiedsfeier
(14.08.) |
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