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Ho Chi Minh

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Im Mausoleum (Hanoi)
Ich reihte mich ein in die schier endlose Menschenschlange, die sich langsam an mir vorbei bewegte und die irgendwo ihren Anfang hatte: Schulklassen aus Hanoi, Abordnungen der Partei aus der Provinz, Familien, alte Frauen und Männer aus den Bergdörfern. In langer Zweierreihe bewegten wir uns langsam auf das neu erbaute Mausoleum zu, wurden später im Gebäude auf den richtigen Weg gewiesen und feierlich von einer Eskorte geführt. Schweigend defilierten wir einzeln auf dem roten Teppich an der Ehrenwache und an dem vorbei, was einmal Ho Chi Minh gewesen war, die Menschen mit ernstem Gesicht, den Hut in der Hand. Sie hatten noch den Überfall der Chinesen 1979 in der Erinnerung, die letzte Phase eines langen Krieges nach den Bombenteppichen der Amerikaner auf Hanoi.
Als wir das ac-gekühlte Mausoleum verließen und in die frühsommerlich warme Luft traten, begannen die Menschen erleichtert zu schnattern und zu lachen. Die Vietnamesen vermögen nun einmal nicht über Gebühr ernst zu sein. Sie lachen gern, und hätte Onkel Ho es vermocht, hätte er angeordnet: "Laßt meine Freunde lachen und schwatzen wenn sie mich besuchen!" Aber das wäre ein vergeblicher, unerfüllter Wunsch geblieben. Hatte die Partei etwa Ho Chi Minhs letzten Wunsch respektiert und ihn ohne viel Aufhebens und Zeremoniell eingeäschert, wie er es in seinem Testament bestimmt hatte? Einundzwanzig Jahre später wurde es publik: Gegen seine letzte Verfügung hatte man ihm ein Staatsbegräbnis bereitet, ihn einbalsamiert und für lange Zeit dem Volk zur Schau gestellt in einem prächtigen Mausoleum aus schwarzem und grauem Marmor aus den Bergen Danangs, mit der - wie das "Handbuch für Vietnam" ironisch vermerkt - besten Klimaanlage Vietnams.
So hatte man aus ihm den Volkshelden gemacht in einer schweren Zeit, in der die leidgeprüften Menschen allerdings Leitbilder brauchten. Mag der Personenkult auch überzogen sein, so ist doch nicht zu übersehen, daß die Menschen im Norden ihren Uncle Ho verehren, ja lieben! Doch den Göttern sei Dank, daß Ho Chi Minhs Seele dem Körper längst entwichen ist. Was dort im Sarkophag liegt, ist ein eingewachstes Etwas - oder gar nur ein Gebilde aus Wachs, eine Wachsfigur aus dem Panoptikum der Madame Tussot? Wer kann das aus der Entfernung schon erkennen?
2
Ho Chi Minhs Haus

Ho Chi Minh ist tot. Irgend etwas von ihm liegt einbalsamiert im nahen, imposanten Mausoleum. Aber in seinem letzten Heim lebt er weiter. Wer das nicht fühlt, ist seelenlos ins Leben geboren. Die Vietnamesen, die hinter dem Mausoleum in einer langen Reihe an seinem Haus vorbei pilgerten, schienen es zu spüren, denn wieder - wie kurze Zeit zuvor - wurde es plötzlich still. Ich spürte: dieses Haus ist beseelt. Ho Chi Minh lebt noch darin. Er hat seine letzte Heimstatt nicht verlassen, mag sein Körper auch einbalsamiert im nahen Mausoleum liegen. Seine Seele verweilt hier. Es ist eine unermeßlich starke Seele, das spürte ich in diesem Augenblick. Wie sonst vermag sie hier zu verweilen, wenn nicht mit dieser eindringlichen Kraft, die das ganze Haus mit intensivem Leben erfüllt und auch mich ergriff?
In diesem Augenblick zweifelte ich einmal mehr an der Gültigkeit menschlicher Wahrnehmung. Einmal mehr erkannte ich die Fragwürdigkeit unseres Denkens, die Fragwürdigkeit dessen, was wir "objektive Wahrnehmung" nennen. Nichts kann sein, was nicht ist! behauptet der einen Beweis fordernde Verstand. Aber Ho Chi Minh war eigentümlich präsent. Unheimlich und nicht zu begreifen für den nur-denkenden Menschen, jedoch beglückend für die erwartende Seele.
Langsam passierte ich das in grün gestrichene Holzhaus am kleinen See mit den hochgezogenen Jalousien an den Fenstern. Die Menschen gingen schweigend vorbei, oder sie unterhielten sich nur leise, um die Stille des Hauses nicht zu stören. Oben, im kleinen Schlafgemach, brannte eine Schreibtischlampe. Ein Buch lag aufgeschlagen auf einem runden Tisch. Die Bettdecke war sorgsam gefaltet auf das Bett gelegt. Unten, im Erdgeschoß, waren Stühle in preußischer Ordnung an einem langen Tisch placiert. Auf der Platte lagen aufgeschlagene Mappen, Protokolle und Staatsverfügungen, als sei Ho Chi Minh kurz mit seinen Freunden frühstücken gegangen. Oder hatte er sich mit ihnen zum Frühschoppen ins nächste Restaurant begeben?
Wieder erfaßte mich die Ahnung seines Daseins wie eine mächtige Welle. Ich fühlte: Das war ein wichtiger Tag. Allein um ihn zu erfahren, hatte es sich gelohnt nach Vietnam zu reisen.