|
Wie sehr die "moderne Gesellschaft" mit ihren
neuen Kommunikationsformen den Zivilisationsmenschen zerreißt,
einen Keil in sein Bewußtsein treibt, es immer mehr spaltet
- das SEIN immer mehr vom Bewußtsein trennt -, ahnt man weit
entfernt von diesem Prozeß - dort, wo eine alte Lebensform noch
intakt ist. In Südindien zum Beispiel oder genauer gesagt in
Tamil Nadu. In einem Landesteil, in der, so der Reiseführer,
"das hinduistische Indien noch überall spürbar und
die spirituelle Kraft Indiens stets gegenwärtig ist, wo man sich
oft in eine frühere Zeit zurückgesetzt fühlt, weit
entfernt vom 20. Jahrhundert".
Das erlebt der Reisende in der Provinz mit ihren Tempelstädten
wie Chidambaram, Thanja-vur, Tiruchirapalli, Madurai und vor allem
Kumbakonam. An Plätzen, wo Tempel und Basare Orte des täglichen
Lebens sind, wo Alltag und Glaube einander durchdringen, weil der
Hindu-ismus keine Sonntagsreligion ist. Wo Heiligtümer und Marktstände
einander abwechseln, das Leben ohne Grenzen hin und her fließt
zwischen Profanem und Sakralem, wo es keine Unter-schiede zwischen
dem Dienen der Götter und dem Einkauf auf den Märkten gibt.
Vieles ist hier noch Einheit, fließt der unendliche Lebensstrom
seinen kraftvollen, ungebrochenen, von der Natur bestimmten Weg von
der Geburt bis zum Tod. In Wendungen und Biegungen und mit Engen,
mit Stromschnellen von Fall zu Fall - ist das nicht Leben? -, aber
in einem einheitlichen Strom, der sich nie verzweigt, sich nie spaltet.
|
|
Selten spürt der Reisende aus anderen
Welten etwas von der Spaltung des Bewußtseins, der Zerrissenheit
des Zivilisati-onsmenschen, der Unruhe und Unstetigkeit des Menschen
in der Alten Welt, seiner Unfähig-keit, im Augenblick zu verweilen,
seiner Sucht nach Befriedigung der täglich gekitzelten und animierten
materiellen Begierden.
Komplexität zeichnet den Südinder aus und das einsichtige
Sich-fügen in einen unabänderlich fließenden Lebensablauf,
gebettet in die festen Ufer eines unerschütterlichen Glaubens,
aber auch das fatalistische Sich-Fügen in gesellschaftliche Zwänge,
auch bedingt durch die Kasten-zugehörigkeit. Wer will das bestreiten?
Zu-frieden-heit, darin der Wortkern "Frieden" steckt, wobei
der Friede und das Ja zum Leben so stark ausgeprägt ist, wie die
Menge des Konsums der Menschen sich bescheiden ausnimmt. In der Alten
Welt zeigt die Statistik eine entgegengesetzte Tendenz: Die Lebensbejahung
nimmt in dem Maße ab, in dem der Wohlstand der Menschen zunimmt.[......]
Ein Verschnaufen, eine Atempause, ist für den suchenden Menschen
nur noch in Dritten Wel-ten möglich - in Tempeln, auf Märkten,
unter den Gläubigen. Doch alles bedeutet auch sehr schnell Nostalgie
im Zuge des Nach-vorn-Hastens mit Transrapid-Geschwindigkeit, der Ent-wicklung
weg von der Gattung Mensch - wohin? Vom Höhlenmenschen hin zum
Hirnmen-schen, zum Wasserkopf, zum übergewichtigen, nicht mehr
ausbalancierten, nicht mehr trimmbaren Kopfmenschen. [.....]
|
|