Südindien, Farbimpressionen, 1993, Teil 1 / 1199b
Fotos und Texte von Otto Göpfert

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Zu-FRIEDEN-heit

 

Wie sehr die "moderne Gesellschaft" mit ihren neuen Kommunikationsformen den Zivilisationsmenschen zerreißt, einen Keil in sein Bewußtsein treibt, es immer mehr spaltet - das SEIN immer mehr vom Bewußtsein trennt -, ahnt man weit entfernt von diesem Prozeß - dort, wo eine alte Lebensform noch intakt ist. In Südindien zum Beispiel oder genauer gesagt in Tamil Nadu. In einem Landesteil, in der, so der Reiseführer, "das hinduistische Indien noch überall spürbar und die spirituelle Kraft Indiens stets gegenwärtig ist, wo man sich oft in eine frühere Zeit zurückgesetzt fühlt, weit entfernt vom 20. Jahrhundert".
Das erlebt der Reisende in der Provinz mit ihren Tempelstädten wie Chidambaram, Thanja-vur, Tiruchirapalli, Madurai und vor allem Kumbakonam. An Plätzen, wo Tempel und Basare Orte des täglichen Lebens sind, wo Alltag und Glaube einander durchdringen, weil der Hindu-ismus keine Sonntagsreligion ist. Wo Heiligtümer und Marktstände einander abwechseln, das Leben ohne Grenzen hin und her fließt zwischen Profanem und Sakralem, wo es keine Unter-schiede zwischen dem Dienen der Götter und dem Einkauf auf den Märkten gibt.
Vieles ist hier noch Einheit, fließt der unendliche Lebensstrom seinen kraftvollen, ungebrochenen, von der Natur bestimmten Weg von der Geburt bis zum Tod. In Wendungen und Biegungen und mit Engen, mit Stromschnellen von Fall zu Fall - ist das nicht Leben? -, aber in einem einheitlichen Strom, der sich nie verzweigt, sich nie spaltet.

Selten spürt der Reisende aus anderen Welten etwas von der Spaltung des Bewußtseins, der Zerrissenheit des Zivilisati-onsmenschen, der Unruhe und Unstetigkeit des Menschen in der Alten Welt, seiner Unfähig-keit, im Augenblick zu verweilen, seiner Sucht nach Befriedigung der täglich gekitzelten und animierten materiellen Begierden.
Komplexität zeichnet den Südinder aus und das einsichtige Sich-fügen in einen unabänderlich fließenden Lebensablauf, gebettet in die festen Ufer eines unerschütterlichen Glaubens, aber auch das fatalistische Sich-Fügen in gesellschaftliche Zwänge, auch bedingt durch die Kasten-zugehörigkeit. Wer will das bestreiten?
Zu-frieden-heit, darin der Wortkern "Frieden" steckt, wobei der Friede und das Ja zum Leben so stark ausgeprägt ist, wie die Menge des Konsums der Menschen sich bescheiden ausnimmt. In der Alten Welt zeigt die Statistik eine entgegengesetzte Tendenz: Die Lebensbejahung nimmt in dem Maße ab, in dem der Wohlstand der Menschen zunimmt.[......]
Ein Verschnaufen, eine Atempause, ist für den suchenden Menschen nur noch in Dritten Wel-ten möglich - in Tempeln, auf Märkten, unter den Gläubigen. Doch alles bedeutet auch sehr schnell Nostalgie im Zuge des Nach-vorn-Hastens mit Transrapid-Geschwindigkeit, der Ent-wicklung weg von der Gattung Mensch - wohin? Vom Höhlenmenschen hin zum Hirnmen-schen, zum Wasserkopf, zum übergewichtigen, nicht mehr ausbalancierten, nicht mehr trimmbaren Kopfmenschen. [.....]
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