Südindien, Farbimpressionen, 1993, Teil 2 / 1203p
Fotos und Texte von Otto Göpfert

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Natur im Recht

 

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Der Rikschafahrer hatte mir das HOTEL MAYURA empfohlen: "Ein neu eröffnetes Hotel, Sir!" Das sind die Worte, die ein müder Wanderer auf seinem beschwerlichen Weg gern hört: ein neu erbautes Hotel in einem verlorenen Städtchen, einer verschlafenen Provinzstadt, die diesmal Chidambaram hieß.
Von außen machte das MAYURA mit seiner glänzenden Klinkerfassade durchaus den Eindruck eines Zwei Sterne-Hotels. Zwei kleine Palmen standen davor, und auch der gewohnte livrierte Türsteher vor dem Portal fehlte nicht, und das ist mehr, als man auf einer langen Reise erwarten kann.
Ein M.O.H. Farook, so die in Stein gemeißelte Inschrift auf der Tafel neben dem Hoteleingang, hatte das Haus am 18. August 1991 im Beisein vieler Honoratioren eröffnet mit Dankesworten an den Architekten und die Bauherren: hiermit sei ein weiterer Meilenstein gesetzt in der touristischen Entwicklung Tamil Nadus und der bedeutenden Stadt Chidambaram.
Doch einmal mehr hatte man nach dem Muster Potemkinscher Dörfer gebaut: Die glatte neue Fassade trog. Hinter ihr gähnte die Leere. Das vierstöckige MAYURA endete in der ersten Etage. Die oberen Etagen waren, wie auch in anderen Hotelneubauten dieser Region, nicht fer-tiggestellt.
Sofort nach dem Bau setzt sich die Vergänglichkeit in den Räumen fest, beginnt der Zahn der Zeit unerbittlich an Mauerwerk und Mobiliar zu nagen, an allem, was fest und auch beweglich ist. Sofort beginnen die Tropen, diesen im Augenblick verlorenen Raum geduldig für sich zu-rückzuerobern gleich dem Dschungel, der - sobald der Mensch ein Stück Urwald gerodet hat - sofort von allen Seiten mit tausend Armen beginnt, dieses Stückchen Erde erneut mit dem Mantel der Zeitlosigkeit zu bedecken, alles zu überwuchern, jede Erinnerung unter Lianen, Schlinggewächsen und Farnen für immer zu begraben.
Der abgetretene rote Läufer im Flur wies Zeichen der Vergänglichkeit auf: große, mit groben Stichen geflickte Löcher und Risse ergaben schmutzige, braune Flecken, und in der ersten Etage fehlte der Läufer ganz. Auf dem Flur hämmerten Hausboys an ramponierten Bettgestellen herum, versuchten sie zu reparieren, waren beim Anstreichen. In meinem Zimmer, am Ende des langen Ganges, holte die harte Wirklichkeit weltentlegener Provinz mich endgültig ein: Die Zwischenwand zum Duschraum war feucht, verspakt und schwarz. Ein Fenster ließ sich nicht öffnen. Im Bad fehlte eine Scheibe. Drei große Kakerlaken hatten es sich auf dem breiten Bett bequem gemacht, und zwei Wandlampen hatten den Geist aufgegeben. Das ist der obligatorische Ablaß, den der Reisende in jeder Absteige zu zahlen hat. Unter dem Zimmerfenster, in geringem Abstand - so daß man ohne Schwierigkeiten von dort ans Fenster und ins Zimmer gelangen konnte - wölbte sich das Wellblechdach der Hotelküche und Abwasch im Parterre.
Der vordere Teil des Dachs neigte sich leicht nach rechts, der hintere nach links, so daß als Ganzes ein gewisses Gleichgewicht gewahrt blieb, eine optische Spannung, die das Auge erfreute. Alte Kartons und leere Zigarettenschachteln lagen auf dem Dach. Niedrige Palmen an der Seite des Hauses und das einfache Strohdach einer kleinen Hütte vis-à-vis hellten das triste Ambiente auf und rundeten den Blick aus dem Fenster etwas versöhnlicher ab. Helles Scheppern von Geschirr und das Klappern von Bestecken drang fortwährend aus der Küche herauf, und der unerträgliche Gestank von abgestandenem, kaltem Bratfett drang ins Zimmer.

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Ich betone noch einmal - und das ist in dieser Geschichte von Belang -: jeder konnte, wenn er wollte, auf das Wellblechdach klettern und versuchen, von dort in mein Zimmer zu gelangen. Die Fenster waren allerdings, wie es in indischen Hotels üblich ist, vergittert. Der Reisende weiß nie: ist der böse Eindringling ausgesperrt, oder ist der einsame Gast lebenslänglich hinter dicken Eisenstäben gefangen? Ich prüfte sorgfältig die Gitter und rüttelte daran: sie waren fest. Also öffnete ich auch die anderen Glasfenster weit, um die muffige Zimmerluft durch abgestandenen Bratendunst zu ersetzen. Der Raum war seit einer Ewigkeit nicht gelüftet worden, und am nächsten Morgen sollte ich erfahren, weshalb das nicht geschehen war.
Vorn, in den beiden Vegetable- und Non-Vegetable-Restaurants, trugen die Kellner weiße Oberhemden mit schwarzer Fliege und bedienten mit gewinnendem Lächeln. Am Ende des Hotels, unter meinem Zimmer, brieten und kochten die Boys mit müden Gesichtern, bekleidet mit schmutzigen Lunghis. Mit nacktem, braunem, schweißnassem Oberkörper standen sie im dunklen Küchenraum an offenen Feuerstellen - wie man es seit fünftausend Jahren tut. Und der dunkle, von den aufflackernden Flammen immer wieder für einen Moment gespenstisch erhellte Raum weckte Erinnerungen an Hauff'sche Märchen, an alte verräucherte Räuberhöhlen im Spessart und Odenwald.
Als ich später in die Stadt ging, ließ ich die Fenster weit offen. Gewöhnlich schließe ich sie, wenn ich das Zimmer verlasse. und das ist richtig und soll künftig so bleiben. Die "Kakkas", diese häßlichen großen Krähen, sind diebische Vögel. Sie kommen ins Zimmer gehüpft und schleppen davon, was sie mit Krallen und scharfem Schnabel greifen können. Meine Reisetasche war jedoch verschlossen, Geld und Ausweis trug ich immer bei mir, und so konnte mir von dieser Seite nichts passieren. Und nicht einmal ein Baby konnte sich durch das enge Gitter zwängen.

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Glauben Sie, daß ich wegen einiger streunenden Kater oder eines lahmenden Hofhundes ein Fenster schließe, daß ich etwa ein Hasenfuß bin? Ach, ich erzähle diese Geschichte mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Weinend deshalb, weil das Denken - auf langen Reisen erprobt - immer wieder dann versagt, wenn man es nicht erwartet, und alle Routine, alles Sicherheitsdenken von Fall zu Fall nicht weiterhilft. Weil jedes Mißtrauen, alle Vorsicht, einen wesentlichen Unsicherheitsfaktor beim Überlegen einfach übersieht - wo im eng geflochtenen Sicherheitsnetz ein Loch vorhanden ist, ein kleiner Riß, den man zu spät bemerkt, und der dann heikle Folgen hat.
Lachend deshalb, weil ich auf eine liebenswürdige Weise ausgetrickst wurde, und dieses Einzehntelprozent der Unsicherheit im Denken und Vorbeugen gegen Verlust oder Diebstahl einmal mehr entscheidend war. Nobody is perfect! Auch auf Reisen mag diese Erkenntnis sich manchmal als folgenschwer erweisen.
Im Nachhinein schulde ich meinen ungeladenen Gästen innigen Dank. Wie sonst hätte ich den totalen Flop meines Denkens auch mit einem lachenden Auge zur Kenntnis nehmen können, meine fehlende Klarsicht in kritischer Situation, die mangelnde Absicherung gegen Un-vorhergesehenes? Dank und Halleluja meinen ungebetenen, nichtsdestoweniger importanten Gästen - grauhaarig wie ich, gewiß, aber noch nicht so sehr auf dem Alterstrip, sondern, sich unbedenklich im Glanze ihrer reiferen Jugend sonnend, sprunglebendig in der wahrsten Bedeutung des Wortes. Ein Stein kann eine Welt ins Rollen bringen - rolling stones gather no moss! - weshalb ich meine Gäste ohne gezogenen Colt empfing - sie, die die Steine meines Vorsichtsdenkens ins Rollen brachten, damit es kein Moos ansetzt - zumal sie schon auf mich warteten, als ich mein Zimmer betrat. Die mein Denken ad absurdum führten und mich in einem schlechten Licht erscheinen ließen: den kleinmütigen, auf Sicherheit bedachten, zum Sicherheitsdenken erzogenen christlichen Wohlstandsbürger.
Sie waren bereits da, bevor ich kam, und eigentlich hätten sie mich gebührend empfangen müssen. Aber soweit ist sie noch nicht fortgeschritten - diese uns fremde Welt. Shiva sei Dank! Aber vielleicht kommt einmal der Tag, an dem sie uns mit entsicherter Flinte erwartet wie die Hasen den Jäger in Hoffmanns bekannten "Struwwelpeter"-Bilderbuch.

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Als ich am Abend aus der Stadt zurückkehrte und mein Zimmer betrat und das Licht einschaltete, blieb ich verblüfft auf der Türschwelle stehen: Große, schwarze Spuren verliefen kreuz und quer auf dem weißen Bettuch wie geheimnisvolle Pfade der Wildnis im ewigen Schnee. Recht gewichtige Tiere waren es gewesen, die ihre schmutzigen Pfoten tief in das saubere Bett gedrückt hatten. Vor allem das Kopfkissen war verdreckt. Da schienen einige Kater oder Hundeherren sich mit ihren Damen ein nettes Schäferstündchen auf meinem Bett gegönnt zu haben. Schnell schaute ich mich im Zimmer um. Aber ich hatte gut vorgesorgt: alle Reise-Utensilien befanden sich noch in der dunklen Reisetasche.
Zwei Katzen jagten jaulend und sich balgend über das Wellblechdach. Die Katze auf dem heißen Blechdach! dachte ich und erinnerte mich an Arthur Millers gleichnamiges Bühnenstück, und mir fiel im Moment gar nicht auf, daß die Abdrücke auf dem Bett für Katzen ungewöhnlich groß waren. So arbeitet unser von Gewohnheiten träger und falschen Erfahrungen irregeleiteter Verstand. Er registriert genau einen Tatbestand, ist jedoch nicht immer fähig, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Nach einer Weile erst meldet sich das kritische Denken, schüttelt man erstaunt den Kopf: Fatal! Wie konnte ich das nur übersehen? Dann ist es in der Regel zu spät.
Ich rief den Zimmerboy und ließ das Kopfkissen neu beziehen. An diesem Abend verschloß ich alle Fenster. Der müde Gast braucht seine Ruhe. Hinzu kommt der Argwohn, ein Dieb möge sich wie der böse Geist in der Flasche in flüchtigen Rauch verwandeln und durch die Gitterstäbe des offenen Fensters in mein Zimmer schweben.
Ich steckte OHROPAX in meine Ohren und packte den Lederbeutel mit den Schecks und Ausweisen wie gewohnt unter das Kopfkissen und legte mich schlafen. Alle Vorsichtsmaßnahmen sind im Laufe der Reisejahre zu Routinehandlungen geworden, die das Gedächtnis nicht mehr belasten - vollzogen ohne Einsatz des wachsamen, vorsorgenden Denkens. Routine und Gewohnheitsakte. So muß es sein, so spart man die Kraft, die man in kritischen Augenblicken braucht. Kein "Wo?", kein ratloses "hier-oder-da?" mit dem verunsichernden Fragezeichen, kein verzweifeltes Suchen, sondern "da!", weil immer da! Nur so kommt man in fremden Welten ungeschoren über die Runden, kann man sich ohne unnötige Belastung der grauen Zellen dem Wesentlichem widmen: der Suche nach einem gut gekühlten GOLDEN EAGLE BEER etwa oder einem abgelagerten OLK MONK RUM von guter Qualität.

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Kein kluger Zivilisationsmensch überspielt die Möglichkeiten seiner Klaviatur. Zivilisationsmensch sein bedeutet Kräfteökonomie, Ausrichtung des Verstandes einzig und allein auf Erringen und Absichern seines Besitzes, auf den Profit - heißt die Trägheit des Denkens nur einmal im Leben zu überwinden, um sich mit einem einzigen Kraftakt seinen Besitz zu ergattern und sich dann für den Rest des Lebens zur Ruhe zu legen in allen weichen Pfühlen dieser Welt unter Palmen und mit der lustvollen Beschäftigung: dem aufregenden Flirt mit dem Tod.
Kein Wachmann kann besser wachen als der wache Verstand des Habgierigen. Kein watchman besitzt den Spürsinn des verwahrenden, sich total absichernden Christeuropäers. Hatte ich diese Prüfung bereits bestanden? War ich letztlich jener Zivilisationsmensch, der alles reduzieren kann auf das Pünktchen auf dem "i" - auf des "Pudels Kern"? Der alte Alec Guinness hat es im Film vorgemacht.
Aber gegen Überraschungen auf Reisen war ich immer noch nicht gefeit - gegen diese Wechselfälle, die schrulligen Launen des Schicksals, den festen Schlag auf den Hinterkopf, wenn man es am wenigsten erwartet. Und man kann von Glück sagen, wenn es nur der Rüssel eines heiligen Tempelelefanten ist, sein freundlicher Begrüßungsschlag. Und dann die bösen Überraschungen zu früher Morgenstund', wenn das Licht in den Tropen am klarsten ist und die Sinne vom abendlichen kühlen Lagerbier am stärksten getrübt. Das ist der Einbruch, der Knockout aller auf eine Krise vorsorglich abgesicherten Sinne, der K.O., der den verkaterten Reisenden wehrlos in den Ringstaub wirft.
Kurz: Ich verlor das Vertrauen in mein Denken. Hinterher kam ich mir wie die seelenlose Software eines Computer-Schachprogramms vor, die allein auf jene Züge des Spielers vorbereitet ist, die programmiert sind. Wie kalt ist das Denken im unmenschlichen Niemandsland! Niemand stößt ins Horn, greift zur Fanfare. Übersichtlich und kontrollierbar ist alles bis ans Ende des vom Bewußtsein gewährten Sehkreises. Erst hinter dem Horizont des Denkens beginnt die "Terra incognita", bleibt der Mensch mit seinen Instinkten abenteuerlich allein. Gibt es bereits die Software als Denkersatz: "Wie schütze ich mich auf Reisen durch unbekannte Welten vor Diebstahl und Verlust? Mit den tausend Varianten eines möglichen Delikts?": Was ich zu beachten und nicht zu beachten habe. Das Programm mit allen Physiognomien des Hotelpersonals, der Mimik und Gestik der Angestellten, ihren Erregungszuständen, den Exaltationen, Ein- und Ausbrüchen, den Facetten, allen Un-Wahrscheinlichkeiten, Blackouts, Eisprüngen und immer drohenden Mondwechseln - auf sie muß man besonders achten -, der Bedeutung von Zahnbürsten? Sie spielen in diesem Drama eine bedeutende Rolle, auch Zahnpastatuben, Geld und weiteres Zubehör.

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Alles war wie gewohnt, als ich am nächsten Morgen erwachte. Die Sonne schien, draußen zirpten die Vögel, mein Geldbeutel zwitscherte lustig unter dem Kopfkissen. Er war also noch da und nicht etwa ausgeflogen. Ich öffnete schlaftrunken die Fenster und unterließ es, den Geldbeutel wie gewohnt in der Reisetasche zu verstauen und begab mich sofort unter die kalte Dusche.
Tatsache ist, daß ich einige Zeit für die Morgentoilette brauchte, mich rasierte und mir zur Abwechslung wieder einmal die Fingernägel schnitt. Alles danach ist einzig blankes Staunen. Denn als ich mein Zimmer wieder betreten wollte, blieb ich wie vom Donner gerührt auf der Türschwelle stehen: Vier stattliche Burschen, voll ausgewachsen, grau in grau, zottig - wie es sich gehört -, schauten mich mit blanken Augen unschuldig von meiner Bettstatt an. Auf meinem geheiligten Kopfkissen hockten sie, die Affenwesen, mit ihren langen, buschigen Schwänzen, die Country Monkeys, wie die Tamil Nadu-Menschen sie mangels präziser Begriffsbestimmung nennen.
Unter buschigen Augenbrauen schauten sie mich abwartend mit freundlichem Augenzwinkern an. Das kann das Herz eines einsamen Reisenden durchaus rühren. Wissen Sie um die Einsamkeit eines Langstreckenläufers? In solchen besonderen Momenten bin ich beeinflußbar, ja formbar, ich akzeptiere alles, wie es ist, und ich lasse mich auf jeden Schwindel ein.
Auch, daß der Stattlichste der vier, er saß mir am nächsten, meine Zahnbürste in der Hand hielt und daran herumfingerte, registrierte ich mit Wohlwollen. Die Zahnpastatube hielt er nicht beachtend in der anderen Hand. Er schien meine Vorliebe für diese Sorte nicht zu teilen. Sein Kumpan zur Rechten übte sich offensichtlich in Fremdsprachen: mit nachdenklich gerunzelter Stirn versuchte er, die Inschrift auf der Verpackung zu entziffern. COLGATE war in großen Lettern weiß in rot gedruckt.
Der dritte im Bunde schaute mich, da im Augenblick unbeschäftigt, erwartungsvoll an. Einmal mehr übermannten mich die Schuldgefühle schon früh am Morgen: erwartete er von mir, daß ich den Zimmerkellner rief und ein deftiges Affenmenü für die Herren bestellte nach ihrer Wahl? Immer und überall und bereits am frühen Morgen verderben die Schuldgefühle mir Christmenschen den Appetit auch auf das bescheidenste Frühstück, den billigsten ungesüßten Morgentee.

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Staunend stand ich da, das Gewohnheitsdenken hatte mich schnöde im Stich gelassen. Da fiel mir der vierte im Bunde ins Auge, den ich noch gar nicht beachtet hatte. Er saß als Wächter in eigener Sache auf dem Fensterbrett, schützte auch seine Kumpane gegen mögliche Überraschungen von außen. Mich schien er zu ignorieren. Das allerdings verletzte mich. In der Hand hielt er ein braunes Etwas, ein Diebesgut, und plötzlich blitzte eine schreckliche Ahnung in mir auf, und es überlief mich heiß und kalt: war das etwa mein Geldbeutel? "What about my money?" schrie ich erschrocken und schlug die Hände über den Kopf zusammen. Auch der zottige Bursche schien nicht frei von Schuldgefühlen zu sein - sie haben bereits die Tierwelt erfaßt -, denn er blinzelte mit den Augen und schwang sich, mit der rechten Hand das Gitter greifend, elegant zum Fenster hinaus, das Diebesgut in seiner Linken.
Weg war er, und damit auch der Beutel! Ihn hatte ich mit Ausweis, Schecks und Flugtickets am letzten Abend unter dem Kopfkissen deponiert, auf dem noch immer meine drei Freunde ruhig saßen. Die eilige Flucht ihres Kumpan schien sie nicht sonderlich zu berühren. "Away! Away!" brüllte ich und stürzte armefuchtelnd auf sie zu, und die drei, ungläubig erstaunt, aufgeschreckt aus ihrem trauten Techtelmechtel, schwangen sich schwerfällig und ohne besondere Eile auf das Fensterbrett und durch das enge Eisengitter - Zahnbürste, Pasta und Tube als Skalp in den Händen.
Ich sprang zum Bett und riß das Kopfkissen zur Seite: der Geldbeutel war weg! Das war die Katastrophe, das war das Loch in meinem Sicherheitsnetz, das war die Quittung, war die Schwachstelle in meinem Sicherheitsdenken. Nein! Da lag er, halb unter das Bettuch geschoben. Aufatmend riß ich den Beutel an mich und stürzte zum Fenster: "Ihr Gauner, ihr Burschen, ihr Diebeskünstler - zum Teufel mit euch!" Ich reckte die Faust und drohte und fuchtelte mit dem Zeigefinger wie ein gelackmeierter Schulmeister.
Denn der Stattlichste der vier saß in sicherer Entfernung von meinem Fenster auf dem Wellblechdach. Die anderen hatten sich in die Palmen geschwungen und schauten neugierig zu mir herüber. Aufgeregt schwang er die blutrote Verpackung mit dem weiß gedruckten COLGATE, und für einen Moment war er der Revolutionär, der Aufständische aus dem Busch, der im Triumph des Augenblicks die rote Fahne der Rebellion schwenkt: Auf, auf! Zeigen wir es dieser Langnase, diesem programmierten Sicherheitsmenschen, diesem weißen Lackaffen! Vertreiben wir ihn aus unserer Welt!
Er blinzelte mir aus der sicheren Entfernung zu. Ja, er schien zu schmunzeln, und plötzlich schien es mir, als wollte er sagen: "Eigentlich bist du doch ein verhinderter Rebell, bist einer von uns! Komm zurück zur Natur, Alter!" Und wieder schwenkte er aufgeregt die rote COLGATE-Packung hin und her, und wieder leuchtete sie in der Morgensonne blutig wie die Fahne der Weltrevolution: Auf die Barrikaden, Genossen! Und erst, als ich ein zweites Mal: "Away!" brüllte, schwang er sich mit einer Behendigkeit, die mich bei diesem gewichtigen Burschen immer wieder überrascht und die alle Gesetze der Schwerkraft zu ignorieren scheint, in die nächste Palme und zum Nebendach. Seine Kumpane folgten ihm und schwangen sich elegant von Ast zu Ast, bis sie meinen Blicken entschwanden, wobei der eine mit der gestohlenen Bürste nebenbei seine Zähne putzte.
Ich hatte meine Lektion gelernt. War ich der Weisheit des Affenkönigs Hanuman näher gekommen? Ich warf mich aufs Bett und lachte hysterisch. Diese stattlichen Burschen, voll ausgewachsen, mit ihren langen, buschigen Schwänzen hatten am Abend zuvor auf meinem Bett ihr Schäferstündchen gehalten - "frech wie Oskar", wie Affen nun einmal sind. Diese zottigen Spitzbuben! dachte ich verblüfft.

8
Als ich einige Wochen später auf meinem Rückweg erneut ein Zimmer im MAYURA nahm, hatte die Rückeroberung des Hauses durch die Natur sichtbare Fortschritte gemacht: Alles war einen Deut mehr heruntergekommen. Diesmal studierte ich in Ruhe die Anweisungen des Hauses - To our residents!. Ganz am Ende, unter general, las ich: "Beware of monkeys! Please close all windows & doors when you leave the room!" Sie, die Affen, bedeuteten in dieser entlegenen Provinz das Problem, waren die Bösemänner, die frechen Oskars, und nicht etwa Pistolen tragende Ganoven aus der Unterwelt. Das sprach Bände, sprach für den Frieden in dieser Region, aber auch für die immer noch ungebrochene Kraft der Natur.

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