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Während meines ersten Indienaufenthalts lud mich ein Bürovorsteher
zu einer Tasse Tee ein. Das geschah in Jodhpur, Rajasthan im Büro
der dortigen Steuerbehörde. Die verstaubten Akten stapelten sich
zu großen Bündeln verschnürt auf Tisch und Boden -
für alle Zeit erledigt oder unerledigt? - allein die Hindugötter
mochten es wissen. Das heilige Teezeremoniell hat bei den Staatsbediensteten
absoluten Vorrang, mag auch die Welt in ihren Grundfesten erschüttert
werden. Ist das eine Übernahme alter englischer Lebensgewohnheiten,
oder ist es umgekehrt: haben gar die Engländer?...
Ich schlürfte den süßen Tee im Kreis der lächelnden
Steuereinzieher, und der Bürovorsteher fragte mich nach meinen
Eindrücken von Indien und seinen Menschen. "Lassen Sie sich
nicht von Zeitungsmeldungen irritieren!", warnte er, "Indien
ist ein tolerantes und gastfreundliches Land. Unterschiedliche Glaubensformen
leben friedlich nebeneinander und die vielen indischen Völker
mit ihren unterschiedlichen Sprachen, Sitten und Bräuchen. Bedenken
Sie: es gibt fünfzig Landessprachen! Kerala, der Staat im Süden
Indiens ist eine ganz andere Welt als unser Rajasthan im Nordwesten
des Landes. Auch die Natur ist unterschiedlich: in Kerala finden Sie
grünes, fruchtbares Palmenland, hier in Rajasthan karge Steppe
und Wüste und in nördlichen Himachal Pradesh Hochgebirge
mit ewigem Eis und Schnee. Und doch fühlen sich alle Menschen
als Inder. Das Ayodhya-Tempelproblem zwischen Moslems und Hindus wird
von einigen Parteien, die vor der Wahl Stimmen sammeln wollen, in
der Presse hochgespielt. Es ist nur ein Politikum, glauben Sie mir,
und nicht mehr."
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Soviel über meinen Besuch bei der Steuerbehörde in Jodhpur.
Zwei Jahre später während meiner zweiten Indienreise, begann
dieses "Politikum" den Staat in seinen Grundfesten zu erschüttern.
Das vormals lokale Ayodhya-Tempelproblem war zu einem gesamtindischen
Problem angewachsen. Der Aufstand der Armen in Bombays Slums erschreckte
ganz Indien. "Burning Bombay!" schrieben die Zeitungen auf
ihren Titelblättern. Fünfhundert Menschen starben während
des Aufruhrs, und viele Häuser brannten. Es war die größte
Revolte in Bombay seit langen Jahrzehnten und ein Fanal der Erhebung
nicht etwa der Besitzlosen gegen die Reichen, sondern der Hindus gegen
die Moslems.
Man mußte nun um die Zukunft des indischen Staatenbundes bangen.
Die Abspaltung Pakistans und Bangladeschs war noch nicht vergessen
Führerpersönlichkeiten der ersten Stunde wie Mahatma Gandhi
oder Neru fehlten heute in der Politik. Noch Indira Gandhi und ihr
Sohn Rajiv hatten die Kraft zur Integration besessen, obwohl die Gandhi-Familie
- wie man behauptet - korrupt war, sich schamlos bereicherte und großen
Reichtum anhäufte. Aber sie war und ist populär, vom Volk
anerkannt, ja, von vielen Indern verehrt. Die einfachen Gedenkstätten
an den Straßen Keralas, die an den Mord an Rajiv Gandhi erinnern,
zeugen davon. [...]
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