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"Was treibt Sie in dieses gottverlassene Nest?"
fragte mich der Deutsche. Das mit dem "gott-verlassen" war
gewiß eine Untertreibung, denn laut Reiseführer ist Khajuraho
mit seinen Chandella-Hindutempeln aus dem neunten bis dreizehnten
Jahrhundert ein Höhepunkt einer Indienreise - sozusagen ein Muß
für den gebildeten Reisenden, für alle Indologen oder Ar-chäologen
oder wie sich die Zunft jener interessierten Wissenschaftler nennt,
die penibel mit einer mir unverständlichen Begeisterung jeden
Stein und Knochen einer Altertumsstätte konservieren, numerieren,
archivieren und hernach mit Akkuratesse zahllose Abhandlungen darüber
verfassen - selbstverständlich nur für ihresgleichen, nicht
etwa für das "ungebildete Volk", denn: erhöht
EURESGLEICHEN, und IHR werdet erhöht werden. Und was hieß
"gottverlassen"? War diese Tempelstadt nicht die Heimat
der Götter?
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Der grauhaarige, jugendlich wirkende Deutsche stellte sich mir vor:
"Hans Lobinger!" Er überreichte mir seine Visitenkarte:
Dr. phil., und darunter, klein und kursiv, betont unauffällig
gedruckt: Dipl. psych. Er kam aus Hoyerswerder. Der Teufel mag wissen,
wo das Nest liegt - wenn nicht an der Weser.
"Fred Winter", stellte ich mich vor, "dreißig
Jahre in Berlin, umwelt- und kontaktgeschädigt, politisch nun
enttäuscht, vor allem von den Umständen der 'deutschen Wiedervereinigung',
beruflich von ihren Folgen wegsaniert, von den Damen verlassen, nun
abgeschabt."
Der Deutsche lachte: "Ich lebte während der unruhigen Achtundsechziger
zehn Jahre in Berlin. Diese Zeit war nicht schlecht, aber dann wurde
es kritisch."
Kritisch für wen und weshalb? Er sagte es nicht. Der Deutsche
hatte die ungesunde, blasse Gesichtsfarbe der im Öffentlichkeitsbereich
tätigen Männer: der Journalisten, Rundfunk- und Fernsehreporter,
P.R.-Manager - und der Psychotherapeuten. Nicht der Dr. phil. - das
philosophische Denken - hatte sein Gesicht blutarm gemacht: es war
der Dipl. psych., der an seinem Lebensnerv nagte. Das sah ich mit
schnellem Blick; darin bin ich geübt, in der Psychologie kenne
ich mich aus, nicht umsonst habe ich sechs Jahre lang Graphologie
studiert.
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Was will ein Dipl. psych. am Tempelort der alten Chandella-Tantriker?
Er mußte hier mit seiner Seelentherapie ins Leere stoßen,
denn alles, was er an diesem Ort fand, war reine, unzerstörbare
Seele, die keiner heilenden Massage bedurfte. Was stand ungeschrieben
an jeder Tempelwand? Kein ICH und kein SELBST! Diese Maxime des hinduistischen
Glaubens bedurfte keiner näheren Erläuterung - höchstens
der, daß die Entwicklung des Menschen hin zur Spaltung in Ich
und Selbst - zum Dualismus - von der Natur nicht beabsichtigt und
die Quelle aller Krankheiten ist. Die Weisen mögen sich darüber
streiten, aber Weise streiten nicht, und der Dipl. psych. durfte sich
über diese Entwicklung nicht beklagen, denn er verdiente in Europa
sein gutes Brot an den lädierten Ichs und Selbst' seiner leidenden
Patienten, den Millionen von Ich-Unterdrückten und Selbstwert-Geschädigten.
Der Deutsche gehörte nicht an diesen Ort; wir gehörten beide
nicht hierher. ICH BIN ICH - das war unsere beklagenswerte gemeinsame
Lebensmaxime.
"Was treibt Sie hierher?" wiederholte er seine Frage.
"Sie werden lachen: der Zufall trieb mich hierher, oder der Reiseführer,
um genau zu sein. Und nicht zuletzt der unbezähmbare Drang nach
Weite."
Der Deutsche lachte. Der Schlaukopf fand mich witzig, und das ärgerte
mich. Sage ich die Wahrheit, glauben mir die Menschen nicht. Lüge
ich, reichen sie mir zustimmend die Hand.
"Sie lachen", sagte ich, "aber ich kam zu Khajuraho
wie die Jungfrau zum Kind."
"Na, dann packen Sie mal aus!" Er wurde neugierig. Als Seelenarzt
sah er mich bereits auf seiner dörflichen Couch in Heuerswerder
liegen: Eine Stunde bitte! Denken Sie nicht, empfinden Sie! Reden
Sie spontan über das, was Ihnen auf dem Magen liegt!
Ich sagte: "Die Cholera hatte mich in Nepal erwischt. Ich kotzte
Wasser, und die Seele entwich klammheimlich meinem leidenden Darm.
Leute, die mich gut kennen, behaupten, ich besitze keine Seele, sei
seelenlos geboren. So oder so: als seelenloses Wesen gehöre ich
nicht an diesen Ort - ein Sakrileg! -, und mein Problem ist für
alle Dipl. Psych's ein- und für allemal gelöst."
"Sie hatten einen Flug?" - Ha!, wie Psychologen bohren können!
Ich begann mich an den Seelenbohrer zu gewöhnen.
"Man landet oft dort, wo man nicht hin will."
Das war altklug, aber der Deutsche verzog keine Miene.
"Ich lag in meinem Hotelbett, und wenn ich nicht gerade litt,
blätterte ich im Reiseführer: wie komme ich raus diesem
ewig verstaubten Katmandu? Bis ich erstaunt las: 'Flug nach Khajuraho
- ruhiges, friedvolles Dorf in der Ganges-Ebene, von freundlichen
Göttern bewohnt. Wohltuender Kontrast zum hektischen und touristisch
verdorbenen Agra und Delhi.' Das war die Lösung! Ich buchte und
flog, und nun bin ich hier. Dieser Ort ist peaceful, und ich kommuniziere
in Ruhe mit den Göttern. Wir haben uns viel zu sagen, und die
Tempel gibt's als angenehme Zugabe gratis zum Nachttisch - als Zubrot
und leckeren Bonbon zum einfallslosen indischen Landdiner."
Der Deutsche lachte - seiner Dünnblütigkeit und der blassen
Gesichtsfarbe zum Trotz. Er war ein humorvoller Fachidiot. Weit über
die Vierzig war er nicht, der Spezialist aus Hoyerswerder.
"Und was treibt Sie hierher?" fragte ich.
Er schwieg. Alle Psychologen schweigen, wenn man ihr Seelenleben befragt.
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Ich konnte mir meine Frage selbst beantworten: Er machte an diesem
friedlichen Götterort "Ferien vom Ich". Keine Ichs
und Selbst' und somit keine Problemfälle: keine Profilneurosen,
keine überfüllten Sprechstunden zivilisationsgeschädigter
Patienten. Sich laben an der friedvollen Stätte an der heilen
Seele der Götter!
"Alles ist reine Seele hier!" sagte ich und neigte andächtig
mein Haupt.
Der Deutsche schaute mich forschend an. Begann er an meinem Geisteszustand
zu zweifeln?
"...Unverdorbene, von Denken und Wollen und Streben unberührte
Seele - das Seelchen einer Biene oder Ameise, die Seele eines Blütenkelchs
- und die eines Chandella-Tempels."
Der Deutsche unterdrückte ein Gähnen: "Die Chandella-Tempel
sind von Menschenhand ge-schaffen, vergessen Sie das bitte nicht!"
"Wozu einen Unterschied machen?", sagte ich, "ob von
der Natur geprägter oder von Men-schenhand geformter Stein: alles
atmet und ist beseelt. Alles ist Leben, ist Bewegung - auch das, was
dem menschlichen Geist tot erscheint. Nebenbei gibt es in der Kunst
keine Form, die nicht der Natur entlehnt ist; und hier in Khajuraho
haben die Götter dem Menschen jedenfalls die Hand geführt.
Alles ist Form, ist Aus-Druck..."
"Ausdruck von was?"
"Ausdruck eines inneren Gesetzes - einer schöpferischen
Grundordnung, die allem Leben und aller scheinbar toten Materie innewohnt."
Ich kam in Rage: "Dieses Gesetz kann genau so gut aus dem archaischen
Antlitz eines Ziegenhirten sprechen wie aus dem aus Stein geschnittenen
Götterwesen; aus der machtvollen Weite der Rajasthan-Wüste
ebenso wie aus der schäumenden Brandung der Arabischen See an
der Küste Goas. Es mag ein menschliches Antlitz sein, in das
es seine unübersehbaren, ausdrucksstarken Runen geschnitten hat,
ein mächtiger Fels in der Brandung, den das Wasser in Jahrmillionen
geformt hat, oder die schneeweißen Dünen bei Sam in der
Thar-Ebene, die der Wüstensand zu einem mächtigen Meer geformt
hat mit Millionen Wellen, erstarrt in einem einzigen Moment der Ewigkeit.
Alles ist Ausdruck, vom Geist geprägte Form. Ich brauche prähistorische
Knochen und Steine nicht zu ordnen. Die unsterbliche Seele ist nicht
katalogisierbar!"
"Es war keine schlechte Zeit, die ich in Berlin
verbracht habe" sagte der Deutsche und erhob sich. Er nickte
mir kurz zu: "Es ist ein kleines Dorf hier. Ich meine, man sieht
sich wieder!"
Aber er meinte es nicht ernst, denn ich sah ihn nicht
wieder.
Ende
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