Hunderttausende TeilnehmerInnen
beim 1. Mai in Istanbul
Die wohl größten
Maikundgebungen Europas finden in Istanbul statt. Kamen im letzten Jahr
nach unterschiedlichen Angaben bis zu einer Million Menschen auf dem Taksim
Platz zusammen, wurde diese Zahl in diesem Jahr wohl noch übertroffen.
Während die ersten TeilnehmerInnen den Platz bereits wieder verließen,
hatten längst nicht alle Gruppen diesen erreicht. Eine größere
Gruppe kurdischer Organisationen konnte wegen Verkehrsproblemen nicht teilnehmen.
Am 1. Mai 1977 versammelten
sich auf dem Taksim Platz in Istanbul Hunderttausende Menschen. Angehörige
faschistischer Konterguerilla feuerten aus einem Hotelfenster Schüsse
in die Menge ab. In der dadurch entstandenen Panik wurden Menschen niedergetrampelt,
die Polizei fuhr mit Panzern in die Menge. 37 Menschen starben, zahllose
wurden teilweise schwerst verletzt. Am Denkmal für die Opfer des
1. Mai 1977 gab es eine Ansprache des Vorsitzenden der Konföderation
der Revolutionären Arbeitergewerkschaften (DISK) im Beisein einiger
Überlebender von damals, die zum Teil bis heute von ihren Verletzungen
gezeichnet sind.
Erst seit dem Jahr 2009 finden auf dem Taksim Platz wieder zugelassene
Maikundgebungen fortschrittlicher Gewerkschaften und zahlloser linken
Gruppen statt; ebenso bildeten Künstlergruppen, Fußballvereine
und andere fortschrittliche Engagierte im kulturellen Bereich Blöcke
mit Fahnen, gemeinsamer Kleidung, Gesang, Sprüchen und mehr. Der
Taksim Platz war auch in diesem Jahr wieder das Ziel der von mindestens
drei Startpunkten aus beginnenden, endlos erscheinenden Demonstrationszüge.
Unter den TeilnehmerInnen gab es zudem eine Anzahl von KollegInnen aus
Deutschland, die beispielsweise mit Delegationen aus Köln vertreten
waren.
Wie auch in den vergangenen
Jahren war sowohl der Platz selber als auch die Zufahrtsstraßen
mit Gittern abgeriegelt. Wer auf den Platz wollte, musste sich einzeln
von Polizisten kontrollieren lassen - Taschendurchsuchung und Körperabtastung
inklusive.
Die einzelnen Gruppen
marschierten bei sommerlichen Temperaturen ab 9 Uhr fein säuberlich
voneinander getrennt in Richtung auf den Platz. Während das offizielle
Programm auf einer großen Bühne direkt neben dem Denkmal aufgebaut
war, hielten sich auf dem Platz selber die offiziell bestätigten
20.000 Polizisten im Hintergrund. Dennoch - Räumpanzer und Wasserwerfer
in den Seitenstraßen der unmittelbaren Umgebung machten deutlich,
dass der 1. Mai, der in der Türkei erst nach dem Militärputsch
von 1980 von diesem abgeschafft und erst im April 2009 als offizieller
Feiertag aufgrund des politischen Drucks der Menschen wieder eingeführt
wurde, dort tatsächlich noch "Kampftag" ist. Dem entsprechend
waren die Forderungen, die von den Gruppen gestellt wurden, breit gefächert.
Von der Forderung nach höheren Löhnen über Arbeitssicherheit,
Kündigungsschutzgesetzen, Arbeitslosenversicherungen, gegen Faschismus,
für eine befreite Gesellschaft, für mehr politische Rechte usw.
gab es kaum ein politisches Feld, das nicht besetzt wurde.
Die Triebfeder dieser
Aktivitäten ist eindeutig in den extremen sozialen Gegensätzen
in der Türkei zu suchen. Der ausufernde Bauboom in Istanbul bringt
den enormen Reichtum einiger weniger im Gegensatz zum deutlich sichtbaren
sozialen Elend großer Teile der Bevölkerung zum Ausdruck. Dass
am ersten Mai so viele verschiedene Kräfte zusammen kommen ist für
sich genommen vielleicht nur ein kleiner Schritt in einem notwendigen
Prozess der politischen und sozialen Organisierung und Orientierung. Zugleich
machte die beeindruckende Demonstration und Kundgebung auch deutlich,
dass bei allen Unterschieden der Wunsch in die Richtung einer fortschrittlichen
Veränderung bei vielen Menschen in der Türkei immer größer
wird. Entsprechend versuchte Premierminister Recep Tayyip Erdogan sich
zum Anwalt der ArbeiterInnen zu machen. Er erklärte: "Wir blicken
seit den Anfängen unserer Regierung auf die Probleme der Arbeiter
als wären es unsere eigenen Sorgen. Ich hoffe, dass der Maifeiertag
in einer freundlichen Atmosphäre und in Solidarität gefeiert
wird."
Zeitgleich machten in Ankara, Bursa und vielen anderen türkischen
Städten die ArbeiterInnen mit ihrer Teilnahme an den Maidemonstrationen
deutlich, dass sie ihre Angelegenheiten lieber selber in die Hand nehmen.
- Thomas Trueten -
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