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Gewohnheiten (Saigon)

 

Wenn ich am späten Vormittag meinen Platz vor dem VIENG CAFE einnahm, lachte der junge Kellner: "Same-same?" Ich sagte: "The same!"
Wenn er mir den gewohnten Teller mit Toast und Spiegelei und den Kaffee auf den Tisch stellte, war es in der Regel zehn Uhr dreißig. Um zehn Uhr fünfunddreißig kam wie jeden Tag der zerschossene Kriegsteilnehmer auf seinem schmalen Brett auf sechs kleinen Rädern um die Ecke gerollt. Mühsam schob er sich mit dem linken Ellenbogen und dem Unterarm am Rinnstein entlang. Mit der rechten Hand stieß er ein Wägelchen vor sich her, auf dem ein Kästchen mit Dong-Scheinen lag.
Seine Beine waren bis zu den Oberschenkeln amputiert, waren nur noch Stümpfe, und der Unterkörper schleifte über den Asphalt. Eine Gummidecke hinten am Brett bot etwas Schutz. Seine Lumpen waren so grau wie die traurigen Straßen des Lebens, ein grauer Dreck der Straße, ein schmutziger Lappen. Er war ein verstaubter Krüppel, eine Null im Minus: ein Nobody im menschlichen Niemandsland - nicht mehr als die vage Erinnerung an das, was einmal "Mensch" gewesen war.

Alle sind wir Krüppel in unserer Schuld. Wenn der Kriegsversehrte sich an meinem Tisch vorbei schob, glomm in seinen Augen eine unbegreifliche Kampfbereitschaft auf. Mit militärisch zackigem Gruß hob er die rechte Hand an seine alte Schirmmütze: "Sir! Bereit zum letzten Gefecht!" Seine Augen sprühten vor Kraft und Aufsässigkeit, und in seinem Blick lag ein unheimliches Ja zum Dasein und zu seiner Existenz - ein Ja, das mich jedesmal bis ins Mark meines existentiellen Nein erschütterte.
Jeden Morgen legte ich ihm dreitausend Dong in das Schächtelchen; und jedes Mal salutierte der Veteran kurz, als wollte er sagen: "Ich kämpfte auf der falschen Seite. Nun lassen mich die neuen Herren hängen!..."
So ging es, bis ich Saigon verließ.