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Im Dasein verwurzelt (Qui Nhon)

  Im einfachen AM PHU- Restaurant trinke ich oft allein meinen Kaffee. Doch an diesem Nachmittag ist das Restaurant voller Gäste. An langen, zusammengerückten Tischen sitzen Vietnamesen in Gruppen, parlieren, schnattern. Leises Lachen erfüllt immer wieder den großen Raum. Nie zu laut, immer in moderatem Ton geben sie ihrer Freude Ausdruck. Blitzlicht flammt auf, ein engagierter Fotograf lichtet Kinder, Familien ab. Eine alte Fotoleuchte blendet auf und wirft bizarre Schatten an die fahlgrüne Wand. Eine unförmige, schwere Videokamera, Modell 1980, hält das Beisammensein für spätere Zeiten fest.
Welch feierlicher Anlaß mag diese Menschen zusammengeführt haben? Sind es verdiente Funktionäre mit ihrer Familie, die hier eingeladen wurden, Veteranen, geehrt von der Partei - oder veranstaltet ein Kombinat seine jährliche Betriebsfeier? Die Knaben tragen kurze Hosen und weiße Hemden mit langen, schwarzen Krawatten wie die Väter, die Mädchen kurze Röcke und das bunte Schleifchen im Haar.
Bauchige Vasen mit langstieligen Orchideen auf den fleckigen Tischdecken können nicht über die bescheidene Tafel hinwegtäuschen: gefüllte Terrinen - ein Essen ohne Suppe ist im Land der Suppenesser nur ein halbes Essen -, Schüsseln mit grünem Salat, der obligatorische com - gekochter Reis - auf großen Platten, immer wieder der gedünstete langblättrige Spinat und sehr kleine Portionen Fleisch. Und, nicht zuletzt, die kleinen Teetassen und die großen Kannen mit grünem Tee.
Die exotischen Blumensträuße auf den Tischen können auch nicht den Blick von den hageren Gesichtern der von langer Unterernährung gezeichneten Menschen ablenken. Aber man lebt, hat überlebt, lacht in der Gemeinschaft. Einmal mehr staune ich über den Zusammenhalt der Menschen in der Gruppe und den ausgeprägten Familiensinn der Vietnamesen.
Allein sitze ich an meinem Ecktisch und beobachte das Leben und Treiben um mich herum. Und ich fühle mich schlecht. Einmal mehr fühle ich mich als Europäer schuldig - mitschuldig an der Misere dieses gebeutelten und ausgebluteten Volkes, gezeichnet von den Hungerjahren und den Entbehrungen während der vielen Kriege und der langen kolonialistischen Ausbeutung.
Gibt es die Kollektivschuld? Ja, es gibt sie! Der Asiate würde bei dieser Antwort ungläubig den Kopf schütteln und mir lachend auf die Schulter klopfen. Trotzdem bin ich Part, Teil eines von imperialistischem Gedankengut noch immer durchdrungenen Europas - eines verderblichen Gedankenguts, das immer noch dumpf im Hinterkopf des weißen Mannes brütet, faule Eier ausbrütet, die unversehens zu Splitterbomben werden können, zu Napalm, Agent Orange und exakt gelegten Bombenteppichen à la Cu Chi, Hanoi und Bagdad. Was sind wir doch für Herrenmenschen!
Eigentlich sollten sie mich aus dem Saal vertreiben, die Veteranen oder Aktivisten, die alten Vietcong an den Nebentischen. Doch sie lachen, genießen den bescheidenen Lunch. Der eine oder andere kommt an meinen Tisch, fragt: "Woher kommst du? Bist du verheiratet? Wieviel Kinder hast du?" Und lädt mich zu einem kleinen Umtrunk ein: mich, den Feind von vorgestern und gestern, den Low Budget-Tourist von heute. Ich fühle mich angenommen, für einen Augenblick aufgenommen in die Gemeinschaft der Vietnamesen, bin Teil des menschlichen Ganzen, bin unter Menschen, die das Leben bejahen, die in einem sehr harten Erfahrungsprozeß lernen mußten, ihr Schicksal anzunehmen.