Südindien, Farbimpressionen, 1993, Teil 1 / 1199n
Fotos und Texte von Otto Göpfert

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1199n

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So kann man aus totem Papier dankbares Leben zaubern. Die Gefahr liegt in der Selbstüberhöhung, der Selbstüberschätzung bis hin zur Maßlosigkeit, die immer droht, die des hochmütigen Herabsehens: Du, von meinen Gnaden! Nimm das dir gewährte Gnadenbrot. Der Grat, auf dem man sich bewegt, ist sehr schmal. Aber allein das Wissen um diese Dinge ist Lebenselixier, Stimulans, ist erregend, sorgt von Mal zu Mal für Lebensspannung: Wo stehe ich?
So reiste ich als entwicklungsbedürftiger Prediger in eigener Sache durch Dritte und Vierte - bestürzend arme - Welten, die nichtsdestoweniger kraftvoll in ihrer Lebensbejahung sind. Ich kam mir wie ein Prediger einer unglaubwürdig gewordenen Weißen Welt vor, die ohne Hilfe des geschulten Psychoanalytikers nicht mehr lebensfähig ist. Aber ich importierte immerhin keine fremde, unpassende Religion in das Land, ich missionierte nicht mit


Worthülsen wie die Pfaffen eines an sich zweifelnden Christentums. Ich predigte mit Noten, den bedruckten Pa-pierscheinen der RESERVE BANK OF INDIA, indem ich sie verteilte. Ich füllte damit leere Mägen und verwirrte keine Köpfe, sondern zauberte ein Lächeln der Erleichterung auf die Gesichter der Menschen, spürte den festen, dankenden Griff nach meiner Hand: Dank für den Reis, für die Mahlzeit, den Sambal und das Gemüse! Dank für die Beedi! Und: God bless you! Wie oft habe ich diesen Satz vernommen, und nicht einmal spürte ich einen falschen Ton heraus, als daß ich ihn hätte unterschlagen, nicht hören wollen. Wie leicht wird Glaube zum leeren Begriff, ein Bekenntnis zum unbedenklich geäußerten flachen Wort und das Leben gar zum Schmierentheater, das den unsinnigen Alltag des Menschen ausfüllt und ihn in der Leere seines Daseins unterhält und betäubt.
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