|
Vater Kottan, der kleine, schmächtige Familienvorstand,
trug eine Herkuleslast auf seinen schmalen Schultern. "Mein Vater
fühlt sich oft schwach und müde", hatte Tochter Sheeja
geklagt. "Er kann die harte Arbeit nicht mehr verrichten!"
Der Vater verließ vor Sonnenaufgang das Haus und kehrte erst
spät nach Einbruch der Dun-kelheit zurück. Er mußte
nun täglich eine weite Strecke mit dem Bus zu seiner Arbeit fahren,
nachdem er seinen Job in der Nähe des Dorfes verloren hatte.
Zwar erhielt er fünfzig statt dreißig Rupien für das
Holzfällen; aber der Bus und die Mahlzeiten verschlangen zwanzig
Rupien, so daß unter dem Strich doch nur der alte Lohn für
die Familie übrigblieb.
Dreißig Rupien gleich ein Dollar: das war der übliche Tageslohn
für Millionen Arbeiter in Indien oder im ostafrikanischen Kenia
und woanders. Und in Kenia waren die Lebenshaltungskosten höher
als in Indien.
Der Vater arbeitete sechs Tage in der Woche. Nur der Sonntag war frei.
Er rauchte nicht und trank keinen Alkohol und aß als gläubiger
Hindu kein Fleisch. Selten gab es ein Ei, sonst ein Leben lang, tagaus,
tagein nur den gewohnten Reis und die Chapatis; und ohne die Kuh vor
dem Haus, die die dringend benötigte Milch für den Tee gab,
wäre die Ernährung noch einsei-tiger gewesen. Aber die Kuh
hatte gekalbt, und es gab für längere Zeit keine Milch,
und Toch-ter Sheeja hatte mir säuerlich lächelnd eine Tasse
Tee hingehalten: "No milk!" Die Familie mußte den
Tee schwarz und ohne Zucker trinken.
|
|
Noch führten die beiden Töchter
das angenehme Leben des Schülers: Sie fuhren morgens früh
mit dem Schulbus ins Collage und in die Highschool und kehrten nachmittags
gegen vier Uhr zurück. Dann saßen sie in ihren bunten Saris
untätig auf der Veranda oder puzzelten an ihren Schulaufgaben herum,
besuchten die Nachbarn oder gingen in den Tempel.
Der Mutter unterstand der ganze Haushalt: Sie kochte, wusch, melkte
und bestellte den klei-nen Acker. Der zehnjährige Sohn Shiju war
die Hoffnung der Eltern. Er sollte sie im Alter ernähren, während
die Eheschließung der Töchter viel Geld kosten würde.
Das Haus war wie üblich nach dem Sohn benannt: Shiju Nivas. Die
Kinder bedeuteten eine Last. Sie arbeiteten nicht, sondern verzehrten
nur, und für den künftigen Bräutigam mußte eine
erkleckliche Ablöse auf den Tisch gelegt werden.
Vater Kottan trug die schwere Bürde seines Lebens mit bewundernswertem
stoischem Gleichmut. Leichtfüßig und scheinbar unbeschwert
betrat er am Abend auf nackten Sohlen das Haus, den weißen Lunghi
hochgebunden. Er trug ein sauberes, fein kariertes Hemd, und es schien,
als käme er von einem Besuch seiner Nachbarn zurück oder von
der Andacht aus dem Tempel.
Ein jungenhaftes Lächeln lag dann auf seinem von Pocken vernarbten
Gesicht, und trotz der Narben, die es entstellten, verklärte ein
Hauch von Schönheit das Gesicht, und die kurzen, borstigen Haare
ließen ihn jugendlich erscheinen. Die Umstände seines harten
Lebens hatten bewirkt, daß er auf seine Weise der Lebensmaxime
jenes Zen-Buddhisten nahe kam, dem nach zwanzig Jahren Meditation die
Erleuchtung kam:
Holz fällen, Wasser tragen... |
|