Südindien, Farbimpressionen, 1993, Teil 1 / 1199p
Fotos und Texte von Otto Göpfert

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Holz fällen...

 

Vater Kottan, der kleine, schmächtige Familienvorstand, trug eine Herkuleslast auf seinen schmalen Schultern. "Mein Vater fühlt sich oft schwach und müde", hatte Tochter Sheeja geklagt. "Er kann die harte Arbeit nicht mehr verrichten!"
Der Vater verließ vor Sonnenaufgang das Haus und kehrte erst spät nach Einbruch der Dun-kelheit zurück. Er mußte nun täglich eine weite Strecke mit dem Bus zu seiner Arbeit fahren, nachdem er seinen Job in der Nähe des Dorfes verloren hatte. Zwar erhielt er fünfzig statt dreißig Rupien für das Holzfällen; aber der Bus und die Mahlzeiten verschlangen zwanzig Rupien, so daß unter dem Strich doch nur der alte Lohn für die Familie übrigblieb.
Dreißig Rupien gleich ein Dollar: das war der übliche Tageslohn für Millionen Arbeiter in Indien oder im ostafrikanischen Kenia und woanders. Und in Kenia waren die Lebenshaltungskosten höher als in Indien.
Der Vater arbeitete sechs Tage in der Woche. Nur der Sonntag war frei. Er rauchte nicht und trank keinen Alkohol und aß als gläubiger Hindu kein Fleisch. Selten gab es ein Ei, sonst ein Leben lang, tagaus, tagein nur den gewohnten Reis und die Chapatis; und ohne die Kuh vor dem Haus, die die dringend benötigte Milch für den Tee gab, wäre die Ernährung noch einsei-tiger gewesen. Aber die Kuh hatte gekalbt, und es gab für längere Zeit keine Milch, und Toch-ter Sheeja hatte mir säuerlich lächelnd eine Tasse Tee hingehalten: "No milk!" Die Familie mußte den Tee schwarz und ohne Zucker trinken.

Noch führten die beiden Töchter das angenehme Leben des Schülers: Sie fuhren morgens früh mit dem Schulbus ins Collage und in die Highschool und kehrten nachmittags gegen vier Uhr zurück. Dann saßen sie in ihren bunten Saris untätig auf der Veranda oder puzzelten an ihren Schulaufgaben herum, besuchten die Nachbarn oder gingen in den Tempel.
Der Mutter unterstand der ganze Haushalt: Sie kochte, wusch, melkte und bestellte den klei-nen Acker. Der zehnjährige Sohn Shiju war die Hoffnung der Eltern. Er sollte sie im Alter ernähren, während die Eheschließung der Töchter viel Geld kosten würde. Das Haus war wie üblich nach dem Sohn benannt: Shiju Nivas. Die Kinder bedeuteten eine Last. Sie arbeiteten nicht, sondern verzehrten nur, und für den künftigen Bräutigam mußte eine erkleckliche Ablöse auf den Tisch gelegt werden.
Vater Kottan trug die schwere Bürde seines Lebens mit bewundernswertem stoischem Gleichmut. Leichtfüßig und scheinbar unbeschwert betrat er am Abend auf nackten Sohlen das Haus, den weißen Lunghi hochgebunden. Er trug ein sauberes, fein kariertes Hemd, und es schien, als käme er von einem Besuch seiner Nachbarn zurück oder von der Andacht aus dem Tempel.
Ein jungenhaftes Lächeln lag dann auf seinem von Pocken vernarbten Gesicht, und trotz der Narben, die es entstellten, verklärte ein Hauch von Schönheit das Gesicht, und die kurzen, borstigen Haare ließen ihn jugendlich erscheinen. Die Umstände seines harten Lebens hatten bewirkt, daß er auf seine Weise der Lebensmaxime jenes Zen-Buddhisten nahe kam, dem nach zwanzig Jahren Meditation die Erleuchtung kam:
Holz fällen, Wasser tragen...
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