Südindien, Farbimpressionen, 1993, Teil 1 / 1200c
Fotos und Texte von Otto Göpfert

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1200c

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Graf Hermann Keyserling
aus: "Das Reisetagebuch eines Philosophen" (1932)

 

[.....] Tatsächlich bewährt es sich [das Kastenystem] reichlich so gut als irgendeines, das der vernünftigere Westen bisher ersann, weil eben in Indien ein Faktor das Hauptmoment bedeutet: eine schier grenzenlose Glaubenskraft." [....]
"...Ich persönlich bin überzeugt, daß die Lehren der Tantras im ganzen zutreffen und daß es trotzdem in der Ordnung ist, daß sie weniger und weniger Beachtung finden. Magie kann nur wirken, wo das Bewußtsein sich in einer bestimmten Lage befindet; diese Lage kann ihrerseits nur bestehen bei einem bestimmten Gleichgewichtszustande der psychischen Kräfte, wo zumal der kritische Verstand Phantasie- und Glaubensbildungen nicht stört. Wo das erforderliche Gleichgewicht besteht, dort wirkt sie freilich; dort bedeuten auch tantrische Zeremonien sehr oft die sichersten Hilfsmittel zum inneren Fortschritt.
Aber wo es verschoben ist, dort versagen sie. Nun verschiebt es sich bei der ganzen Menschheit mehr und mehr in dem Sinne, daß der Verstand über der Phantasie das Übergewicht gewinnt. Dies bedingt einen Fortschritt überall, wo es sich um Meisterung der Außenwelt handelt; es bedingt aber gleichzeitig das Aus-dem-Auge-verlieren einer anderen Seite der Wirklichkeit. Wer über das Tantrikastadium hinaus ist, ist erhaben über viele Einflüsse der psychischen Sphäre, welche vielfach stören, aber andrerseits entgeht ihm auch deren Positives.

Das Äußerste kann dieser so gut wie jener realisieren; er kann es überdies viel besser verstehen. Während der Tantrika wahrhaftige Erlebnisse meist im Sinn absurder Theorien interpretiert, ist der Verstandesklare in der Lage, ein gleiches Erleben, wo er es kennt, objektiv-richtig zu deuten. Aber er kennt es zunächst sehr viel seltener. Ohne Zweifel steht die Seele des Tantrika Einflüssen offen, die auf eine andere Bewußtseinslage überhaupt nicht einwirken; si-cher bedingt das Hinauswachsen über die seinige insofern einen Verlust.
Wir verstandesklaren Europäer erleben vieles von dem nicht mehr, was der abergläubische Hindu erlebt. Und wahrscheinlich schließt uns unsere Seelenverfassung nicht allein von vielen unwichtigen Erlebnissen aus, sondern auch von einigen der höchsten, die der Menschenseele zugänglich sind. So allein wenigstens vermag ich es mir zu deuten, daß alle höchsten Offenbarungen von Geistern herstammen, die in vielen Hinsichten nicht nur unbefangen, sondern auch unentwickelt, unreif, unzugänglich, unkritisch und unverständig wie die Kinder gewesen sind. Freilich übertrifft der Hinduismus den noch so weisen christlichen Katholizismus an psychologischer Einsicht vielhundertfältig; ich wüßte keinen Zustand der Seele, dem er aus dessen inneren Voraussetzungen heraus nicht gerecht würde...

Ende

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