Südindien, Farbimpressionen, 1993, Teil 2 / 1203t
Fotos und Texte von Otto Göpfert

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1203t

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Ein alter Brahmane

 

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"Come! Come!" riß mich eine forsche Stimme aus meinen Träumen. Der Ton war nicht befehlend, sondern einladend: "Please, come!" Eben noch war die breite Veranda des Landhauses leer gewesen, plötzlich stand ein alter Mann auf dem Vorbau. Sein Kopf war kahl geschoren. Er trug eine weiße Tunika und die große, randlose Brille des Denkers. Überrascht blieb ich stehen. "Mahatma! Der Meister persönlich!..."
Ich hatte den erstbesten Weg vom lärmenden Highway in die Kaffeeplantagen genommen. Fort von der Zivilisation! Der asphaltierte Weg führte mich schnell in die Stille und das tiefe Grün der Pfeffer- und Kaffeepflanzungen. Er beschrieb nach einer Weile einen großen Bogen und schien über kurz oder lang wieder auf den Highway zu stoßen. Ich folgte dem asphaltierten Weg, der an Palmenhainen vorbei führte, an jungen Reisfeldern und neu angelegten, frisch bewässerten Bananenpflanzungen. Auf den Plantagen war die Kaffee-Ernte im vollen Gange. Frauen in bunten Saris trugen Körbe mit Kaffee auf dem Kopf, andere füllten die roten oder grünen Beeren in bereitgehaltene Säcke. Ausgangs einer kleinen Ansiedlung ging der asphaltierte Weg unvermittelt in einen breiten Sandweg über. Ein alter Traktor überholte mich und wirbelte die trockne, rote Erde in dichten Wolken auf. Sie staubte mich blutrot ein.
Der Weg schlängelte sich an einer engen Schlucht entlang und verengte sich zu einem schmalen Pfad mit ausgefahrenen Radspuren. Er führte durch ein offenstehendes breites Gittertor auf eine große Kaffeeplantage und endete plötzlich auf dem Hof. Unschlüssig blieb ich vor dem offenen Tor stehen. Führte der schmale Weg auf der anderen Seite wieder aus der Plantage hinaus?

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Ich betrat den Hof. Hinter einer Gruppe hoher Palmen stand ein ockerfarbenes zweistöckiges Landhaus. Es wirkte herrschaftlich, beinahe protzig in der Welt der flachen Bungalows und einfachen Hütten. Die Engländer mochten es vor vielen Jahren erbaut haben. Zu einer großen Farm gehört nun einmal ein stattliches Herrenhaus!. Da vernahm ich das laute und bestimmte: "Come!" Unschlüssig blieb ich stehen, und erst nach der zweiten energischen Einladung ging ich auf das Haus zu. Der alte Inder, er mochte über fünfundsechzig sein, kam mir mit ausgestreckten Händen entgegen. "Kommen Sie bitte in mein Haus!" Ich ging mit ihm zur Veranda, zog meine Sandalen aus und folgte ihm barfuß in die große, hell gekachelte Halle, in der eine angenehme Kühle herrschte. Wir setzten uns in zwei bequeme Korbsessel.
Der Alte taxierte mich eine Weile: "Was arbeiten Sie?" - "Ich drucke Bücher!" sagte ich. "Dann sind wir Berufskollegen!", rief er und erhob sich. Er reichte mir die Hand: "Ich war zehn Jahre Redakteur bei der größten Zeitung in Calicut. Vor zwei Jahren habe ich mich aufs Land auf meine Plantage zurückgezogen."
Er drehte sich um und redete auf einen blassen, jungen Mann ein, der hinter ihn getreten war. Der Mann wirkte erschöpft und musterte mich mit müden Augen. Der Alte sprach mit ihm in malayalam, der Kerala-Sprache. Als der junge Mann die Halle verlassen hatte, nahm der Alte den Gesprächsfaden wieder auf: "Ich bekam für meine Arbeit als Redakteur monatlich 3.000 Rupien. Wieviel Deutsche Mark sind das heute?" - "Ungefähr 170,-- Mark" sagte ich. Er fragte: "Und was verdient ein deutscher Berufskollege?" Ich überlegte: "Als ich vor zwanzig Jahren bei der Zeitung arbeitete, bekam ein leitender Redakteur zwischen 60.000,-- und 130.0000,-- Rupien - je nach der Dauer der Beschäftigung und der Höhe der zusätzlichen Gewinnbeteiligung."
"Im Jahr?" - "Im Monat!"
Der Alte lachte und schüttelte ungläubig den Kopf. Der junge Mann kam zurück und brachte uns eine Tasse Milchkaffee. Wir tranken den starken Kaffee. Der Alte sagte: "Natürlich ist das Leben in Indien billiger. Für diese Tasse Kaffee zahlen Sie zwei Rupien!" Ich sagte: "Im INDIAN COFFEEHOUSE bekomme ich einen ausgezeichneten Kaffee sogar für nur eineinhalb Rupien, das sind acht Pfennig."
Nun legte ich mein Lieblingsthema auf den Tisch, das der konträren Entwicklung des Menschen: je besser es dem Menschen materiell geht, um so unzufriedener wird er. Oder: die Zunahme der Lebensqualität geht zusammen mit einem Verlust an Lebensbejahung.

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Der Alte hörte mir schweigend zu. Dann sagte er: "Ich zahle meinen Arbeitern dreißig Rupien pro Tag - die Pflücker werden nach Leistung bezahlt. Das ist nicht viel und entspricht einem Dollar. Aber, glauben Sie mir, die Menschen sind immer zufrieden. Sie trinken auch gern einmal einen Arrak über den Durst. Manchmal kommen sie zu mir und bitten um ein advance, und ich gebe ihnen den Vorschuß, denn sie zahlen ihn immer brav zurück. Es sind gute Menschen. Ich habe kaum Probleme mit ihnen, vor allem nicht mit den Hindus. Nur die Moslems sind eigenartige Menschen. Privat und während der Arbeit sind sie willig und freundlich wie die anderen. Sobald sie jedoch in der Gruppe unter sich sind oder in der Moschee, werden sie fanatisch!"
Er schüttelte den Kopf: "Im Süden Keralas gibt es das eine oder andere Dorf, in dem bereits achtzig Prozent der Einwohner Moslems sind. Und woher kommt der hohe Anteil der Gläubigen? Wir Hindus betreiben family Planing - Familienplanung - und haben in der Regel nicht mehr als zwei Kinder. Der Moslem darf jedoch bis zu vier Frauen heiraten - vier Ehen zur gleichen Zeit führen -, und wenn er mit jeder drei Kinder hat, so sind das zwölf Nachkömmlinge. Das bereitet uns Hindus Sorgen."
Ich sagte: "Das Ayodhia-Tempelproblem zwischen Moslems und Hindus war vor zwei Jahren ein Politikum, das die Parteien hochspielten." Der Alte nickte: "Die kleinen Parteien wollten nur Votes - Stimmen - sammeln, mehr nicht." Ich meinte: "Heute, zwei Jahre später, ist dieses politische Problem zu einem nationalen Problem angewachsen."
Als der Alte schwieg, fuhr ich fort: "Ich habe gelesen, daß die daraus resultierenden Unruhen in Bombay die größten in der Geschichte der Stadt waren. Über fünfhundert Menschen starben, viele wurden aus ihrem Stadtteil vertrieben, Häuser brannten. Es war kein Aufstand der Harijans, der Kastenlosen, gegen die Reichen, sondern ein Aufstand der Hindus gegen die moslemische Minderheit. So war es doch? Eigentlich hatte ich es umgekehrt erwartet. Ich denke dabei an die militanten moslemischen Fundamentalisten in aller Welt!"
Der Alte antwortete nicht. Die Wahrheit schien ihm nicht zu gefallen, aber ich faßte sein Schweigen als Zustimmung auf. "Der aggressive Islam bedeutete Krieg zwischen Persien und dem Irak", sagte ich, "und zwischen dem Irak und den Vereinten Nationen; Krieg in Afghanistan - und bald auch in Indien? Der Schriftsteller V.S. Naipaul spricht in seinem Buch 'Eine islamische Reise' von einem Glaubenskrieg der islamistischen Fundamentalisten gegen die Technik der Industrienationen. Wird es nach dem knapp vermiedenen globalen Krieg der Ideologien eine neue Auseinandersetzung geben - einen Weltkrieg zwischen den unterschiedlichen Glaubensformen?"
Der Alte fiel mir mit einer abwehrenden Handbewegung ins Wort: "Nein, nein! Es wird keine Auseinandersetzung geben, dazu sind die moslemischen Staaten unter sich zu sehr zerstritten. Der Islam wird sich niemals einigen können, und die Staaten werden sich nicht verbünden wollen. Denken Sie nur an das kleine Israel! Es siegte über große Nachbarn, weil diese sich nicht einig waren. Der Islam schwächt sich immer wieder selbst, denken Sie nur an den verstorbenen Ayatollah Khomeini, den Schiiten. Heute verdanken die Moslems Macht und Einfluß allein dem Erdöl. Wenn es nicht mehr fließt, ist es damit aus."
"Wann wird das sein?" fragte ich. - "In Fünfzig Jahren."
Ich lachte: "Das ist eine lange Zeit! Als Europäer habe ich meine Bedenken. Indiens Stabilität scheint im Moment nicht nur durch diese Glaubens-Auseinandersetzungen gefährdet..."

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Ich holte meine Reiselektüre 'Indien, ein Land in Aufruhr' von V.S. Naipaul aus der Tasche und schlug eine Seite auf. Ich sagte: "Naipaul schreibt über die rasche industrielle Entwicklung Indiens folgendes: '...Und mit dem Geld sind viele lang begrabene Besonderheiten freigelassen worden. Diese entzweienden kleineren Loyalitäten - [u.a.] der Kaste und Sippe - kratzen nun die Oberfläche des indischen Lebens an ...Gruppengefühl und politisches Bewußtsein sind erwacht. Sie - die Gruppen - haben aufgehört, Abstraktionen zu sein. Sie beginnen, etwas für sich selbst zu tun. Die Leute beginnen Wert auf ihre Besonderheit zu legen!..''"
Ich sah den Alten an: "Hat Indien im Moment die Führerpersönlichkeit mit der Kraft zur Integration eines Gandhi und Neru, um die unterschiedlichen Gruppeninteressen unter einen Hut zu bringen? Mit einer charismatischen Ausstrahlung, die unerläßlich ist, um das viel-schichtige Indien im Zuge der dynamischen industriellen Entwicklung zusammenzuhalten? Wird es vielleicht eine weitere Trennung zwischen hinduistischen und moslemischen Indern geben in Form neuer Staatsgründungen wie jener von Pakistan und Bangladesch?"
"Nein", sagte der Alte entschieden, "das wird es nicht geben! Bedenken Sie: über achtzig Prozent der Inder sind Hindus und nur zehn Prozent Moslems."
"Wird der Bundesstaat Indien in eine Vielzahl unabhängiger Kleinstaaten zerfallen nach dem Vorbild der UdSSR? Wird sich dieser Trend zu einer Klein- und Vielstaaterei, der zur Zeit in der Welt zu beobachten ist, auch Ihr Land erfassen?"
"Niemals!", sagte der Alte, "es stimmt, daß die Politik, die im Moment gemacht wird, nicht besonders gut ist. Aber Auseinandersetzungen als solche und Probleme an sich sind immer wichtig, um einerseits Ventile für eine allgemeine Unzufriedenheit zu öffnen und andererseits den Blick zu schärfen für die tatsächlichen Probleme, die anliegen, damit man gemeinsam eine Lösung findet. Denken Sie nur: eines Tages würde alles wie aus heiterem Himmel auf einmal hervorbrechen wie eine große Eruption" - er sagte: "Irapschen."
Der Alte lächelte: "Ich gehöre der Kaste der Brahmanen an. Sehen Sie dieses Baumwollband an meinem Hals? Es gleicht dem einigenden Band des Hinduglaubens, und an diesem Band hängen wie kostbare Perlen unsere Staaten wie Kerala, Tamil Nadu, Rajasthan und die anderen. Der Hinduglaube ist das alles Verbindende, das Bindeglied zwischen den unterschiedlichen indischen Völkern und den unterschiedlichen Gruppeninteressen. Deshalb wird Indien nie auseinanderfallen." Er unterbrach sich: "Lassen Sie uns noch eine Tasse Kaffee trinken!"
Er rief den jungen Mann. Nach einer Weile brachte er uns eine Tasse schwarzen ungesüßten Kaffee. Ich fragte: "Ist der Kaffee von Ihrer Farm?" "Ja", sagte der Alte und beugte sich vor und griff nach der Tasse. Dabei glitt die weiße Tunika von seiner Schulter und entblößte seinen tief gebräunten, jugendlich wirkenden Oberkörper. Eine innere Spannkraft erfüllte diesen Mann, deren Ausstrahlung ich spürte, und die auf mich übersprang. Dabei wirkte sein Körper eher zart und asketisch. Aber die wachen Augen hinter der großen Brille funkelten kampfbereit für seine Kaste und, wie ich hoffte, immer auch für eine gute Sache. [...]

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