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"Come! Come!" riß mich eine forsche Stimme aus meinen
Träumen. Der Ton war nicht befehlend, sondern einladend: "Please,
come!" Eben noch war die breite Veranda des Landhauses leer gewesen,
plötzlich stand ein alter Mann auf dem Vorbau. Sein Kopf war
kahl geschoren. Er trug eine weiße Tunika und die große,
randlose Brille des Denkers. Überrascht blieb ich stehen. "Mahatma!
Der Meister persönlich!..."
Ich hatte den erstbesten Weg vom lärmenden Highway in die Kaffeeplantagen
genommen. Fort von der Zivilisation! Der asphaltierte Weg führte
mich schnell in die Stille und das tiefe Grün der Pfeffer- und
Kaffeepflanzungen. Er beschrieb nach einer Weile einen großen
Bogen und schien über kurz oder lang wieder auf den Highway zu
stoßen. Ich folgte dem asphaltierten Weg, der an Palmenhainen
vorbei führte, an jungen Reisfeldern und neu angelegten, frisch
bewässerten Bananenpflanzungen. Auf den Plantagen war die Kaffee-Ernte
im vollen Gange. Frauen in bunten Saris trugen Körbe mit Kaffee
auf dem Kopf, andere füllten die roten oder grünen Beeren
in bereitgehaltene Säcke. Ausgangs einer kleinen Ansiedlung ging
der asphaltierte Weg unvermittelt in einen breiten Sandweg über.
Ein alter Traktor überholte mich und wirbelte die trockne, rote
Erde in dichten Wolken auf. Sie staubte mich blutrot ein.
Der Weg schlängelte sich an einer engen Schlucht entlang und
verengte sich zu einem schmalen Pfad mit ausgefahrenen Radspuren.
Er führte durch ein offenstehendes breites Gittertor auf eine
große Kaffeeplantage und endete plötzlich auf dem Hof.
Unschlüssig blieb ich vor dem offenen Tor stehen. Führte
der schmale Weg auf der anderen Seite wieder aus der Plantage hinaus?
2
Ich betrat den Hof. Hinter einer Gruppe hoher Palmen stand ein ockerfarbenes
zweistöckiges Landhaus. Es wirkte herrschaftlich, beinahe protzig
in der Welt der flachen Bungalows und einfachen Hütten. Die Engländer
mochten es vor vielen Jahren erbaut haben. Zu einer großen Farm
gehört nun einmal ein stattliches Herrenhaus!. Da vernahm ich
das laute und bestimmte: "Come!" Unschlüssig blieb
ich stehen, und erst nach der zweiten energischen Einladung ging ich
auf das Haus zu. Der alte Inder, er mochte über fünfundsechzig
sein, kam mir mit ausgestreckten Händen entgegen. "Kommen
Sie bitte in mein Haus!" Ich ging mit ihm zur Veranda, zog meine
Sandalen aus und folgte ihm barfuß in die große, hell
gekachelte Halle, in der eine angenehme Kühle herrschte. Wir
setzten uns in zwei bequeme Korbsessel.
Der Alte taxierte mich eine Weile: "Was arbeiten Sie?" -
"Ich drucke Bücher!" sagte ich. "Dann sind wir
Berufskollegen!", rief er und erhob sich. Er reichte mir die
Hand: "Ich war zehn Jahre Redakteur bei der größten
Zeitung in Calicut. Vor zwei Jahren habe ich mich aufs Land auf meine
Plantage zurückgezogen."
Er drehte sich um und redete auf einen blassen, jungen Mann ein, der
hinter ihn getreten war. Der Mann wirkte erschöpft und musterte
mich mit müden Augen. Der Alte sprach mit ihm in malayalam, der
Kerala-Sprache. Als der junge Mann die Halle verlassen hatte, nahm
der Alte den Gesprächsfaden wieder auf: "Ich bekam für
meine Arbeit als Redakteur monatlich 3.000 Rupien. Wieviel Deutsche
Mark sind das heute?" - "Ungefähr 170,-- Mark"
sagte ich. Er fragte: "Und was verdient ein deutscher Berufskollege?"
Ich überlegte: "Als ich vor zwanzig Jahren bei der Zeitung
arbeitete, bekam ein leitender Redakteur zwischen 60.000,-- und 130.0000,--
Rupien - je nach der Dauer der Beschäftigung und der Höhe
der zusätzlichen Gewinnbeteiligung."
"Im Jahr?" - "Im Monat!"
Der Alte lachte und schüttelte ungläubig den Kopf. Der junge
Mann kam zurück und brachte uns eine Tasse Milchkaffee. Wir tranken
den starken Kaffee. Der Alte sagte: "Natürlich ist das Leben
in Indien billiger. Für diese Tasse Kaffee zahlen Sie zwei Rupien!"
Ich sagte: "Im INDIAN COFFEEHOUSE bekomme ich einen ausgezeichneten
Kaffee sogar für nur eineinhalb Rupien, das sind acht Pfennig."
Nun legte ich mein Lieblingsthema auf den Tisch, das der konträren
Entwicklung des Menschen: je besser es dem Menschen materiell geht,
um so unzufriedener wird er. Oder: die Zunahme der Lebensqualität
geht zusammen mit einem Verlust an Lebensbejahung.
3
Der Alte hörte mir schweigend zu. Dann sagte er: "Ich zahle
meinen Arbeitern dreißig Rupien pro Tag - die Pflücker
werden nach Leistung bezahlt. Das ist nicht viel und entspricht einem
Dollar. Aber, glauben Sie mir, die Menschen sind immer zufrieden.
Sie trinken auch gern einmal einen Arrak über den Durst. Manchmal
kommen sie zu mir und bitten um ein advance, und ich gebe ihnen den
Vorschuß, denn sie zahlen ihn immer brav zurück. Es sind
gute Menschen. Ich habe kaum Probleme mit ihnen, vor allem nicht mit
den Hindus. Nur die Moslems sind eigenartige Menschen. Privat und
während der Arbeit sind sie willig und freundlich wie die anderen.
Sobald sie jedoch in der Gruppe unter sich sind oder in der Moschee,
werden sie fanatisch!"
Er schüttelte den Kopf: "Im Süden Keralas gibt es das
eine oder andere Dorf, in dem bereits achtzig Prozent der Einwohner
Moslems sind. Und woher kommt der hohe Anteil der Gläubigen?
Wir Hindus betreiben family Planing - Familienplanung - und haben
in der Regel nicht mehr als zwei Kinder. Der Moslem darf jedoch bis
zu vier Frauen heiraten - vier Ehen zur gleichen Zeit führen
-, und wenn er mit jeder drei Kinder hat, so sind das zwölf Nachkömmlinge.
Das bereitet uns Hindus Sorgen."
Ich sagte: "Das Ayodhia-Tempelproblem zwischen Moslems und Hindus
war vor zwei Jahren ein Politikum, das die Parteien hochspielten."
Der Alte nickte: "Die kleinen Parteien wollten nur Votes - Stimmen
- sammeln, mehr nicht." Ich meinte: "Heute, zwei Jahre später,
ist dieses politische Problem zu einem nationalen Problem angewachsen."
Als der Alte schwieg, fuhr ich fort: "Ich habe gelesen, daß
die daraus resultierenden Unruhen in Bombay die größten
in der Geschichte der Stadt waren. Über fünfhundert Menschen
starben, viele wurden aus ihrem Stadtteil vertrieben, Häuser
brannten. Es war kein Aufstand der Harijans, der Kastenlosen, gegen
die Reichen, sondern ein Aufstand der Hindus gegen die moslemische
Minderheit. So war es doch? Eigentlich hatte ich es umgekehrt erwartet.
Ich denke dabei an die militanten moslemischen Fundamentalisten in
aller Welt!"
Der Alte antwortete nicht. Die Wahrheit schien ihm nicht zu gefallen,
aber ich faßte sein Schweigen als Zustimmung auf. "Der
aggressive Islam bedeutete Krieg zwischen Persien und dem Irak",
sagte ich, "und zwischen dem Irak und den Vereinten Nationen;
Krieg in Afghanistan - und bald auch in Indien? Der Schriftsteller
V.S. Naipaul spricht in seinem Buch 'Eine islamische Reise' von einem
Glaubenskrieg der islamistischen Fundamentalisten gegen die Technik
der Industrienationen. Wird es nach dem knapp vermiedenen globalen
Krieg der Ideologien eine neue Auseinandersetzung geben - einen Weltkrieg
zwischen den unterschiedlichen Glaubensformen?"
Der Alte fiel mir mit einer abwehrenden Handbewegung ins Wort: "Nein,
nein! Es wird keine Auseinandersetzung geben, dazu sind die moslemischen
Staaten unter sich zu sehr zerstritten. Der Islam wird sich niemals
einigen können, und die Staaten werden sich nicht verbünden
wollen. Denken Sie nur an das kleine Israel! Es siegte über große
Nachbarn, weil diese sich nicht einig waren. Der Islam schwächt
sich immer wieder selbst, denken Sie nur an den verstorbenen Ayatollah
Khomeini, den Schiiten. Heute verdanken die Moslems Macht und Einfluß
allein dem Erdöl. Wenn es nicht mehr fließt, ist es damit
aus."
"Wann wird das sein?" fragte ich. - "In Fünfzig
Jahren."
Ich lachte: "Das ist eine lange Zeit! Als Europäer habe
ich meine Bedenken. Indiens Stabilität scheint im Moment nicht
nur durch diese Glaubens-Auseinandersetzungen gefährdet..."
4
Ich holte meine Reiselektüre 'Indien, ein Land in Aufruhr' von
V.S. Naipaul aus der Tasche und schlug eine Seite auf. Ich sagte:
"Naipaul schreibt über die rasche industrielle Entwicklung
Indiens folgendes: '...Und mit dem Geld sind viele lang begrabene
Besonderheiten freigelassen worden. Diese entzweienden kleineren Loyalitäten
- [u.a.] der Kaste und Sippe - kratzen nun die Oberfläche des
indischen Lebens an ...Gruppengefühl und politisches Bewußtsein
sind erwacht. Sie - die Gruppen - haben aufgehört, Abstraktionen
zu sein. Sie beginnen, etwas für sich selbst zu tun. Die Leute
beginnen Wert auf ihre Besonderheit zu legen!..''"
Ich sah den Alten an: "Hat Indien im Moment die Führerpersönlichkeit
mit der Kraft zur Integration eines Gandhi und Neru, um die unterschiedlichen
Gruppeninteressen unter einen Hut zu bringen? Mit einer charismatischen
Ausstrahlung, die unerläßlich ist, um das viel-schichtige
Indien im Zuge der dynamischen industriellen Entwicklung zusammenzuhalten?
Wird es vielleicht eine weitere Trennung zwischen hinduistischen und
moslemischen Indern geben in Form neuer Staatsgründungen wie
jener von Pakistan und Bangladesch?"
"Nein", sagte der Alte entschieden, "das wird es nicht
geben! Bedenken Sie: über achtzig Prozent der Inder sind Hindus
und nur zehn Prozent Moslems."
"Wird der Bundesstaat Indien in eine Vielzahl unabhängiger
Kleinstaaten zerfallen nach dem Vorbild der UdSSR? Wird sich dieser
Trend zu einer Klein- und Vielstaaterei, der zur Zeit in der Welt
zu beobachten ist, auch Ihr Land erfassen?"
"Niemals!", sagte der Alte, "es stimmt, daß die
Politik, die im Moment gemacht wird, nicht besonders gut ist. Aber
Auseinandersetzungen als solche und Probleme an sich sind immer wichtig,
um einerseits Ventile für eine allgemeine Unzufriedenheit zu
öffnen und andererseits den Blick zu schärfen für die
tatsächlichen Probleme, die anliegen, damit man gemeinsam eine
Lösung findet. Denken Sie nur: eines Tages würde alles wie
aus heiterem Himmel auf einmal hervorbrechen wie eine große
Eruption" - er sagte: "Irapschen."
Der Alte lächelte: "Ich gehöre der Kaste der Brahmanen
an. Sehen Sie dieses Baumwollband an meinem Hals? Es gleicht dem einigenden
Band des Hinduglaubens, und an diesem Band hängen wie kostbare
Perlen unsere Staaten wie Kerala, Tamil Nadu, Rajasthan und die anderen.
Der Hinduglaube ist das alles Verbindende, das Bindeglied zwischen
den unterschiedlichen indischen Völkern und den unterschiedlichen
Gruppeninteressen. Deshalb wird Indien nie auseinanderfallen."
Er unterbrach sich: "Lassen Sie uns noch eine Tasse Kaffee trinken!"
Er rief den jungen Mann. Nach einer Weile brachte er uns eine Tasse
schwarzen ungesüßten Kaffee. Ich fragte: "Ist der
Kaffee von Ihrer Farm?" "Ja", sagte der Alte und beugte
sich vor und griff nach der Tasse. Dabei glitt die weiße Tunika
von seiner Schulter und entblößte seinen tief gebräunten,
jugendlich wirkenden Oberkörper. Eine innere Spannkraft erfüllte
diesen Mann, deren Ausstrahlung ich spürte, und die auf mich
übersprang. Dabei wirkte sein Körper eher zart und asketisch.
Aber die wachen Augen hinter der großen Brille funkelten kampfbereit
für seine Kaste und, wie ich hoffte, immer auch für eine
gute Sache. [...]
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