Südindien, Farbimpressionen, 1993, Teil 2 / 1203z
Fotos und Texte von Otto Göpfert

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1203z

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Schmerzender Traum

 

1
Hätte ich Ihnen die Geschichte vor einem Monat erzählt, wäre es mit heiterem Herzen geschehen - in flüssigem Stil, mit blitzenden Einfällen comme il faut und treffenden Vergleichen. Nun ist mein Herz erkaltet, meine Zunge schwer, und die Sätze wollen mir nicht mehr recht über die Lippen.
Ich spürte einen Kloß im Hals, als ich nach zwei Monaten den Ort Mapidi verließ, das wollte ich sagen, und ich schaute nicht zum HARITAGIRI hinüber, als der Bus am Hotel vorbeifuhr. Ich verließ ein Stückchen Heimat, ein kleines Fleckchen Erde in dieser großen Welt, in dem ich Wurzeln geschlagen hatte: Heimat - gewonnen und wieder verloren.
Nur die Götter wußten, ob ich noch einmal zurückkehren würde. Zu schnell deckt die dahin eilende Zeit die alten Erinnerungen mit dem dunklen Mantel des Vergessens zu, lenken neue Eindrücke vom Gestern ab, raubt die graue Gegenwart alle Kraft zur Rückbesinnung. Ich verließ ein Stück Heimat, das ich mir auf langen Wegen erwandert, erträumt und in meine Wirklichkeit umgeformt hatte kraft meines suchenden Herzens, meines unbezähmbaren Wunschs nach DASEIN.
Ich war in den zwei Monaten meines Aufenthalts wie eine Taube leicht und unbeschwert durch diese ursprüngliche Welt geflogen - wie durch einen schönen Traum. Denn es war eine Traumwelt gewesen, in der ich mich wie ein König in seinem großen Reich stolz und frei bewegt hatte, leicht, beschwingt und noch einmal unbeschwert von der Bürde der Vergangenheit und frei von der Last des Zukünftigen.
Kein Traum war vorher gewesen, kein Flug und dann der Absturz, keine Flügel waren beschnitten worden. In meinen kühnsten Träumen hatte ich mir diese Welt nicht so vorstellen können. Sie hatte sich mir überraschend offenbart. Nichts war vorher gewesen, nicht einmal Erwartung.

2
Meine Wirklichkeit ist der Stoff, aus dem ich mir meine Traumwelt zimmere, und aus ihr schuf ich auch hier meine Welt. Ich nahm das Material, das sich mir bot, nutzte es, um mir mein Traumhaus zu bauen. Würde der Vorrat an Bausteinen einmal erschöpft sein, müßte ich neue Wirklichkeiten suchen, um weiter bauen und leben zu können. In meiner europäischen Welt war das Material längst verbraucht. Würde ich auf meinen Reisen weiterhin so fündig werden, mochte der Baustoff aller Wirklichkeiten dieser Erde noch fünfhundert Jahre reichen. Aber dem setzt die Natur einen Riegel vor, und nur ein Balsac oder Dostojewskij war groß genug, um in einem Leben ein Weltenhaus zu bauen.
In den Bergen von Wyanad fand ich reichen, vielfältigen Baustoff für meine unruhigen Träume: Es waren die blühenden Kaffeeplantagen in ihrem unschuldigen Weiß, die jungen Reisfelder zwischen den weiten Kokospalmen-Hainen, die weichen Kuppen der Berge von Wyanad, der brennende Hibiskus an den Wegen, die kaltrote Bougainvillea vor den Häusern, die Changing Rose, die sich am Abend rot verfärbt, die weiten Teeplantagen, die sich wie ein weicher Teppich aus Moos an die Berghänge schmiegen, das herzliche Lachen der Schulkinder auf ihrem Nachhauseweg, die Freundlichkeit der Menschen in diesem Land, ihr Ja zum Leben, der Einklang zwischen Mensch und Natur - hier gab es ihn noch.
Baustoff waren die leuchtenden roten oder blauen Saris der arbeitenden Frauen auf den Reisfeldern, war die betäubende Stille, die tiefen Frieden bedeutete, war die reine, würzige Luft, die der kühle Wind am Abend von den Bergen brachte, das kristallene Licht der Bergsonne am späten Nachmittag, waren Menschen wie Sheeja, Sheeba und Leon...
Die Götter hatten dieses Bergland gesegnet. Das Land hatte die Menschen geformt, und die Menschen spürten das. Die junge Sheeja mit ihren leuchtenden Augen, fragend auf diese Welt gerichtet, mit ihrer samtenen, bronzefarbenen Haut, war ein Abkömmling jener Bergwesen, denen die Sonne das Lächeln in die Gesichter gebrannt und die Augen geöffnet hatte zu einem ursprünglichen Staunen: "Wie heißt du? Woher kommst du?"
Ich sah das Reisfeld vor mir, auf dem die Ernte im Gange war, die Bauern mit nacktem, braunem Oberkörper, die den geschnittenen Reis auf Ochsenkarren luden. Ich sah die weißen Lunghis der Arbeiter in der grellen Nachmittagssonne leuchten. Da war der Duft der Reisstroh-Schober, der die Nase kitzelte, waren die weißen Ochsen mit blau und rot angestrichenen Hörnern. Die vielen Wasserlöcher am Rande der abgeernteten Felder weiter unten im Land, aus denen die Wasserbüffel nach ihrer Arbeit zufrieden kauend und freundlich blinzelnd ihre Köpfe steckten, bis zum Hals vom Schlamm bedeckt, und ich wünschte mir, in meinem nächsten Leben ein Wasserbüffel zu sein.

3
Ich dachte: Diese Jugendzeit der Mädchen unter Palmen, zwischen Reis- und Bananenfeldern im milden Licht einer alles verstehenden Sonne! Die silbergrauen Berge im Westen und der gewohnte Gang am Abend in den dörflichen Tempel. Ich war viel gereist, ich konnte das nachempfinden, ich konnte mich auf meine Kindheit berufen am Meer, auf dem hohen Seedeich mit den weidenden Schafen und den blökenden Osterlämmern, den schreienden Silbermöwen, den tobenden Herbststürmen und den Sturmfluten des Blanken Hans.
Aber mit der Reife, dem Beginn der Menstruation, begann für die Mädchen der Lebenskampf, das Rangeln um das tägliche Brot, das bange Warten auf die Verheiratung durch die Eltern und der traurige Abschied vom Elternhaus - begann der harte Lebensweg der indischen Frau, der immer Arbeit bedeutet, Opfer, Zurücksetzung und ein Leben lang Verzicht.
Darin gab ich Dauthendey recht: "...der Vielgereiste haftet mehr an der Erde als der Niegereiste..." - weil Traum sich in Wirklichkeit verwandelt hatte: So hatte er es gemeint. Für mich bedeutete es aber auch, daß der Vielgereiste - der ein ewig Suchender ist - von seinen Traumflügen ermüdet ein Fleckchen Erde findet, das seine ermattete Seele zur Rast einlädt, auf dem er sich niederläßt und das ihm ein Stück Heimat wird, in dem er Wurzeln schlägt und wo er in Ruhe altern und sterben mag.
Welche träumende Seele vermag ewig in ferne Welten fliegen? Jede müde Seele sehnt sich einmal nach dem aus festem Erdenstoff gebauten Nest, jenem Stoff, dem sie entstammt: nach der warmen Muttererde. Und hier mag sie dann landen und ein Nest bauen für den grauen Herbst des Lebens, um auszuruhen von ihrem langen Flug, um nun sterblicher zu sein als andere sterbliche Seelen, um auszurufen, was Pablo Neruda gerufen hat: "...und nicht Traum ist mein Traum, sondern Erde!..."

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