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1
Hätte ich Ihnen die Geschichte vor einem Monat erzählt,
wäre es mit heiterem Herzen geschehen - in flüssigem Stil,
mit blitzenden Einfällen comme il faut und treffenden Vergleichen.
Nun ist mein Herz erkaltet, meine Zunge schwer, und die Sätze
wollen mir nicht mehr recht über die Lippen.
Ich spürte einen Kloß im Hals, als ich nach zwei Monaten
den Ort Mapidi verließ, das wollte ich sagen, und ich schaute
nicht zum HARITAGIRI hinüber, als der Bus am Hotel vorbeifuhr.
Ich verließ ein Stückchen Heimat, ein kleines Fleckchen
Erde in dieser großen Welt, in dem ich Wurzeln geschlagen hatte:
Heimat - gewonnen und wieder verloren.
Nur die Götter wußten, ob ich noch einmal zurückkehren
würde. Zu schnell deckt die dahin eilende Zeit die alten Erinnerungen
mit dem dunklen Mantel des Vergessens zu, lenken neue Eindrücke
vom Gestern ab, raubt die graue Gegenwart alle Kraft zur Rückbesinnung.
Ich verließ ein Stück Heimat, das ich mir auf langen Wegen
erwandert, erträumt und in meine Wirklichkeit umgeformt hatte
kraft meines suchenden Herzens, meines unbezähmbaren Wunschs
nach DASEIN.
Ich war in den zwei Monaten meines Aufenthalts wie eine Taube leicht
und unbeschwert durch diese ursprüngliche Welt geflogen - wie
durch einen schönen Traum. Denn es war eine Traumwelt gewesen,
in der ich mich wie ein König in seinem großen Reich stolz
und frei bewegt hatte, leicht, beschwingt und noch einmal unbeschwert
von der Bürde der Vergangenheit und frei von der Last des Zukünftigen.
Kein Traum war vorher gewesen, kein Flug und dann der Absturz, keine
Flügel waren beschnitten worden. In meinen kühnsten Träumen
hatte ich mir diese Welt nicht so vorstellen können. Sie hatte
sich mir überraschend offenbart. Nichts war vorher gewesen, nicht
einmal Erwartung.
2
Meine Wirklichkeit ist der Stoff, aus dem ich mir meine Traumwelt
zimmere, und aus ihr schuf ich auch hier meine Welt. Ich nahm das
Material, das sich mir bot, nutzte es, um mir mein Traumhaus zu bauen.
Würde der Vorrat an Bausteinen einmal erschöpft sein, müßte
ich neue Wirklichkeiten suchen, um weiter bauen und leben zu können.
In meiner europäischen Welt war das Material längst verbraucht.
Würde ich auf meinen Reisen weiterhin so fündig werden,
mochte der Baustoff aller Wirklichkeiten dieser Erde noch fünfhundert
Jahre reichen. Aber dem setzt die Natur einen Riegel vor, und nur
ein Balsac oder Dostojewskij war groß genug, um in einem Leben
ein Weltenhaus zu bauen.
In den Bergen von Wyanad fand ich reichen, vielfältigen Baustoff
für meine unruhigen Träume: Es waren die blühenden
Kaffeeplantagen in ihrem unschuldigen Weiß, die jungen Reisfelder
zwischen den weiten Kokospalmen-Hainen, die weichen Kuppen der Berge
von Wyanad, der brennende Hibiskus an den Wegen, die kaltrote Bougainvillea
vor den Häusern, die Changing Rose, die sich am Abend rot verfärbt,
die weiten Teeplantagen, die sich wie ein weicher Teppich aus Moos
an die Berghänge schmiegen, das herzliche Lachen der Schulkinder
auf ihrem Nachhauseweg, die Freundlichkeit der Menschen in diesem
Land, ihr Ja zum Leben, der Einklang zwischen Mensch und Natur - hier
gab es ihn noch.
Baustoff waren die leuchtenden roten oder blauen Saris der arbeitenden
Frauen auf den Reisfeldern, war die betäubende Stille, die tiefen
Frieden bedeutete, war die reine, würzige Luft, die der kühle
Wind am Abend von den Bergen brachte, das kristallene Licht der Bergsonne
am späten Nachmittag, waren Menschen wie Sheeja, Sheeba und Leon...
Die Götter hatten dieses Bergland gesegnet. Das Land hatte die
Menschen geformt, und die Menschen spürten das. Die junge Sheeja
mit ihren leuchtenden Augen, fragend auf diese Welt gerichtet, mit
ihrer samtenen, bronzefarbenen Haut, war ein Abkömmling jener
Bergwesen, denen die Sonne das Lächeln in die Gesichter gebrannt
und die Augen geöffnet hatte zu einem ursprünglichen Staunen:
"Wie heißt du? Woher kommst du?"
Ich sah das Reisfeld vor mir, auf dem die Ernte im Gange war, die
Bauern mit nacktem, braunem Oberkörper, die den geschnittenen
Reis auf Ochsenkarren luden. Ich sah die weißen Lunghis der
Arbeiter in der grellen Nachmittagssonne leuchten. Da war der Duft
der Reisstroh-Schober, der die Nase kitzelte, waren die weißen
Ochsen mit blau und rot angestrichenen Hörnern. Die vielen Wasserlöcher
am Rande der abgeernteten Felder weiter unten im Land, aus denen die
Wasserbüffel nach ihrer Arbeit zufrieden kauend und freundlich
blinzelnd ihre Köpfe steckten, bis zum Hals vom Schlamm bedeckt,
und ich wünschte mir, in meinem nächsten Leben ein Wasserbüffel
zu sein.
3
Ich dachte: Diese Jugendzeit der Mädchen unter Palmen, zwischen
Reis- und Bananenfeldern im milden Licht einer alles verstehenden
Sonne! Die silbergrauen Berge im Westen und der gewohnte Gang am Abend
in den dörflichen Tempel. Ich war viel gereist, ich konnte das
nachempfinden, ich konnte mich auf meine Kindheit berufen am Meer,
auf dem hohen Seedeich mit den weidenden Schafen und den blökenden
Osterlämmern, den schreienden Silbermöwen, den tobenden
Herbststürmen und den Sturmfluten des Blanken Hans.
Aber mit der Reife, dem Beginn der Menstruation, begann für die
Mädchen der Lebenskampf, das Rangeln um das tägliche Brot,
das bange Warten auf die Verheiratung durch die Eltern und der traurige
Abschied vom Elternhaus - begann der harte Lebensweg der indischen
Frau, der immer Arbeit bedeutet, Opfer, Zurücksetzung und ein
Leben lang Verzicht.
Darin gab ich Dauthendey recht: "...der Vielgereiste haftet mehr
an der Erde als der Niegereiste..." - weil Traum sich in Wirklichkeit
verwandelt hatte: So hatte er es gemeint. Für mich bedeutete
es aber auch, daß der Vielgereiste - der ein ewig Suchender
ist - von seinen Traumflügen ermüdet ein Fleckchen Erde
findet, das seine ermattete Seele zur Rast einlädt, auf dem er
sich niederläßt und das ihm ein Stück Heimat wird,
in dem er Wurzeln schlägt und wo er in Ruhe altern und sterben
mag.
Welche träumende Seele vermag ewig in ferne Welten fliegen? Jede
müde Seele sehnt sich einmal nach dem aus festem Erdenstoff gebauten
Nest, jenem Stoff, dem sie entstammt: nach der warmen Muttererde.
Und hier mag sie dann landen und ein Nest bauen für den grauen
Herbst des Lebens, um auszuruhen von ihrem langen Flug, um nun sterblicher
zu sein als andere sterbliche Seelen, um auszurufen, was Pablo Neruda
gerufen hat: "...und nicht Traum ist mein Traum, sondern Erde!..."
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