Südindien, Farbimpressionen, 1993, Teil 2 / 1204a
Fotos und Texte von Otto Göpfert

Kontakt über: post@umbruch-bildarchiv.de
Zurück Home Weiter

 

1204a

1204a.jpg

Lügen haben kurze Beine

 

Ich liebe Großmütter, und ich mag Bauernweisheiten und kernige Sprüche. Davon kann ich nicht genug bekommen. Ein Spruch meiner Großmutter, den sie gern bei jeder passenden Gelegenheit zitierte, war: "Lügen haben kurze Beine". Daran mußte ich denken, als einer der vielen Menschen, die mich auf Reisen freundlich begrüßen, fragte: "Woher kommen Sie?"
Er war ein liebenswürdige Inder. Sein Gesicht ist aus meiner Erinnerung entschwunden, aber nicht die Begebenheit, denn dieser freundliche Mann forderte mich zur Lüge buchstäblich heraus. Dieser Stachel sitzt tief, und das war so gekommen: Mir um Lichtsekunden voraus waren immer jene Schreckensmeldungen aus Deutschland, die auch das letzte Dorf in der Wüste Thar oder in den Bergen von Wyanad über Satellitenfernsehen in Wort und Bild erreichen, bevor ich müde und verstaubt mit dem brüchigen Lokalbus ankomme.
"Woher kommst du?" - "Aus Deutschland!"
"Weshalb werden dort die Asylanten verfolgt?" Ich erklärte es.
"Man hat wieder ein Haus angezündet."
Ich schwieg und verfluchte das Unglück, Deutscher zu sein.
"Zwei Ausländer wurden getötet."
Ich wurde es leid, deutsche Schandtaten zu entschuldigen. Nach einigen Wochen änderte ich meine Nationalität.
"Woher kommst du?" - "Aus Dänemark, aus Kopenhagen!"
"Oh, Denmark! A rich country!"
Dabei blieb es. Bis dieser freundliche Inder erschien. Es war in Pondicherry, der ehemaligen französischen Kolonie in Tamil Nadu.
"Woher kommen Sie?" - "From Denmark!"
"Ah! God Dage!" sagte er auf dänisch: " Wo falld de i India?"
Um - als ich verdutzt schwieg - auf englisch hinzuzufügen: "Ich bin seit zehn Jahren der Fahrer des dänischen Bischofs und spreche etwas dänisch. Haben Sie das alte dänische Fort an der Küste in Tarangambadi besucht? Es wurde 1620 erbaut. Die Dänen waren lange vor den Holländern und den Engländern in Indien. Wissen Sie das?" Er überfuhr mich mit einem Schwall von Worten und überging höflich, daß ich nicht dänisch sprach.
Ich sagte: "Ich habe das alte Fort vor zwei Wochen besichtigt. Auch den alten Bischofssitz an dem Weg zur Küste habe ich gesehen. Die dänische Flagge wehte am Fahnenmast. Lebt Ihr Bischof dort?" - "Ja, Sir!"
"Entschuldigen Sie, daß ich nicht dänisch spreche. Ich bin im deutschsprachigen, heute dänischen Tondern geboren."
Das war zu kompliziert, um für einen Inder in der heißen Vormonsunzeit ein Thema zu sein, aber er quittierte meine Aussage mit einem strahlenden Lächeln.
"Hat Ihnen das alte Fort gefallen?"
"Sehr!" sagte ich, "das ist ein guter Platz."
Er reckte sich stolz: "Ich wohne im Hause des Bischofs." Ich schwieg. Meine Lüge hatte keine kurzen Beine gehabt, sie war an Krücken gehumpelt. Aber als Inder legte er meine Krücken nicht auf die Waagschale einer menschlichen Wertung. Es war meine Lüge und damit mein Problem.

Zurück Home Weiter