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Ich liebe Großmütter, und ich mag Bauernweisheiten
und kernige Sprüche. Davon kann ich nicht genug bekommen. Ein
Spruch meiner Großmutter, den sie gern bei jeder passenden Gelegenheit
zitierte, war: "Lügen haben kurze Beine". Daran mußte
ich denken, als einer der vielen Menschen, die mich auf Reisen freundlich
begrüßen, fragte: "Woher kommen Sie?"
Er war ein liebenswürdige Inder. Sein Gesicht ist aus meiner
Erinnerung entschwunden, aber nicht die Begebenheit, denn dieser freundliche
Mann forderte mich zur Lüge buchstäblich heraus. Dieser
Stachel sitzt tief, und das war so gekommen: Mir um Lichtsekunden
voraus waren immer jene Schreckensmeldungen aus Deutschland, die auch
das letzte Dorf in der Wüste Thar oder in den Bergen von Wyanad
über Satellitenfernsehen in Wort und Bild erreichen, bevor ich
müde und verstaubt mit dem brüchigen Lokalbus ankomme.
"Woher kommst du?" - "Aus Deutschland!"
"Weshalb werden dort die Asylanten verfolgt?" Ich erklärte
es.
"Man hat wieder ein Haus angezündet."
Ich schwieg und verfluchte das Unglück, Deutscher zu sein.
"Zwei Ausländer wurden getötet."
Ich wurde es leid, deutsche Schandtaten zu entschuldigen. Nach einigen
Wochen änderte ich meine Nationalität.
"Woher kommst du?" - "Aus Dänemark, aus Kopenhagen!"
"Oh, Denmark! A rich country!"
Dabei blieb es. Bis dieser freundliche Inder erschien. Es war in Pondicherry,
der ehemaligen französischen Kolonie in Tamil Nadu.
"Woher kommen Sie?" - "From Denmark!"
"Ah! God Dage!" sagte er auf dänisch: " Wo falld
de i India?"
Um - als ich verdutzt schwieg - auf englisch hinzuzufügen: "Ich
bin seit zehn Jahren der Fahrer des dänischen Bischofs und spreche
etwas dänisch. Haben Sie das alte dänische Fort an der Küste
in Tarangambadi besucht? Es wurde 1620 erbaut. Die Dänen waren
lange vor den Holländern und den Engländern in Indien. Wissen
Sie das?" Er überfuhr mich mit einem Schwall von Worten
und überging höflich, daß ich nicht dänisch sprach.
Ich sagte: "Ich habe das alte Fort vor zwei Wochen besichtigt.
Auch den alten Bischofssitz an dem Weg zur Küste habe ich gesehen.
Die dänische Flagge wehte am Fahnenmast. Lebt Ihr Bischof dort?"
- "Ja, Sir!"
"Entschuldigen Sie, daß ich nicht dänisch spreche.
Ich bin im deutschsprachigen, heute dänischen Tondern geboren."
Das war zu kompliziert, um für einen Inder in der heißen
Vormonsunzeit ein Thema zu sein, aber er quittierte meine Aussage
mit einem strahlenden Lächeln.
"Hat Ihnen das alte Fort gefallen?"
"Sehr!" sagte ich, "das ist ein guter Platz."
Er reckte sich stolz: "Ich wohne im Hause des Bischofs."
Ich schwieg. Meine Lüge hatte keine kurzen Beine gehabt, sie
war an Krücken gehumpelt. Aber als Inder legte er meine Krücken
nicht auf die Waagschale einer menschlichen Wertung. Es war meine
Lüge und damit mein Problem.
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