Südindien, Farbimpressionen, 1993, Teil 2 / 1204c
Fotos und Texte von Otto Göpfert

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Ein Hauch von Paris

 

Eine "Entwicklungshilfe" besonders charmanter Art haben die Franzosen in ihrer ehemaligen Kolonie Pondicherry geleistet. Sie bestand darin, daß sie eine Strandpromenade zu ihrem Ergötzen bauten, aber damit auch zum großen Vergnügen der Inder. In strenger Nordsüd-Richtung zieht sie sich am Ufer hin und fügt sich dem streng geometrisch angelegten Stadtbild Pondicherrys nahtlos ein, jenem - den Spaniern nachgeahmten - rechtwinkligen Stadtprinzip, das immer wieder monoton wirkt.
Die Natur - der kurvenreiche Küstenstrich - hat sich im Laufe der Zeit diesem strengen Streben nach linearer Planung verständnisvoll angepaßt, verläuft die Küste doch heute ebenso geradlinig im immer gleichen Abstand zur Strandpromenade, einsichtig der Tatsache, daß dieser guten Idee von der Natur keine Hindernisse in den Weg gelegt werden sollen. Denn die zweite großartige Idee, und ich schreibe sie ebenfalls den Franzosen zu, war, das breite, doppelspurige Asphaltband, gut geeignet für einen Monte Carlo-Rallye-Ableger, an Sonn- und Feiertagen für den öffentlichen Autoverkehr zu sperren. Ein Novum, ja, eine Sensation in einem verkehrsreichen und turbulenten Land wie Indien.
Keine rasenden Busse qualmen Gift, keine heulenden Jeeps veranstalten auf dem Boulevard ein Wettrennen, ausgeklammert ist jenes lärmende Leben, das Eile und Hektik bedeutet. Eine Ausnahme in einem von Lärm und Motorisierung gequälten Land. Und die Vision eines Frankreichs von gestern taucht auf, das eines Marcel Proust oder Maupassant: beschauliches Flanieren auf der Strandpromenade von Cannes.
Das ist das Beeindruckende in Pondicherry, von den Indern liebevoll "Pondi" genannt. Tausendfach honorieren die Bürger der Stadt diesen europäischen Weg der Ruhe, des Friedens und der Beschaulichkeit: In Gruppen promenieren die Inder an den Wochenenden auf der Strandpromenade, hocken sie versunken in Yoga-Stellung vor der Brandung der Bucht von Bengalen - lesen, meditieren -, schauen versunken, die sichtbare Welt umfassend, auf das anbrandende Meer.
Hier gibt es Wasser "zum Anfassen". Selten kommt der erholungssuchende Reisende in Indien dem Meer so nah. Er weiß das zu schätzen. Wann erlebt der Reisende das Meer so kultiviert und aus nächster Nähe: ruhig, flammend von Sonnenaufgängen, ohne Exkremente, ohne un-erträglichen Uringestank? Das Pissoir auf französische Art am Nordende der langen Prome-nade ist eine exakte Kopie der Pissoirs an der Place Pigalle und am Mont Parnasse in Paris.
Und die Flics, die in blau gekleideten Polizisten mit roter Schirmmütze, regeln mit wirbelndem Stab den Fußgängerverkehr wie ihre Kollegen auf der Rue Montmartre. Ein Hauch von Frankreich, von Fasson und Charme ist spürbar. Doch unter den langschirmigen Mützen erblickt der Betrachter die dunkelbraunen Gesichter der bildschönen Tamil-Nadu-Mädchen, wird er einmal mehr überwältigt von der strahlenden Schönheit der südindischen Frau. Der indische Gast auf der Dachterrasse des HOTEL ROYAL ruft vornehm: "Garcon, s'yl vous plais!" Er trägt den kecken schwarzen Schnurrbart stolz wie der kleine Pariser Busschaffner oder der Poilu. Auf der kleinen Place hinter dem Strand wird engagiert geboult, wird wie in den Dörfern der französischen Provinz mit geübtem Schwung die eiserne Kugel geworfen, landet sie exakt im Zielbereich.
So europäisch verträumt, europäischer als der alte Kontinent, kann Indien sein. Aber Paris liegt für den Europäer vor der Tür. Allein: dort fehlt der Kontrast zweier unterschiedlicher Welten, der inspiriert, nachdenklich stimmt und zum Träumen einlädt. Dort fehlt auch die notwendige Distanz zur eigenen Vergangenheit, fehlt - darf ich es ketzerisch wagen zu sagen? - das frühkoloniale Flair.

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