Südindien, Farbimpressionen, 1993, Teil 2 / 1204d
Fotos und Texte von Otto Göpfert

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1204d

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Abstieg

 

Als ich an den alten Kellner im SUN AND SEA RESTAURANT dachte, fiel mir eine Begebenheit ein, die sich in Pondicherry, der ehemaligen französischen Kolonie an der Küste Tamil Nadus zugetragen hatte: Ich hatte nach Sonnenuntergang auf dem Dachgarten eines Seerestaurants Platz genommen und mir eine gut gekühlte Flasche PONDICHERRY BEER bestellt.
Da sprach mich ein junger Kellner an, der mich beobachtet haben mochte, wie ich dasaß und das geruhsame Leben auf der Strandpromenade genoß und die in der Abendfrische flanierenden Inder betrachtete. Er trat an meinen Tisch und tat vertraulich und stellte die üblichen Fragen: woher ich käme, welchen Beruf ich ausübe, ob ich verheiratet sei, ob ich Ganja, also "Stoff" brauche. Ich war überrascht, so spontan angesprochen zu werden. Die Tamil Nadu-Menschen und auch die aus Pondicherry sind nicht so mitteilsam und vor allem nicht so herzlich direkt wie die aufgeschlossenen, oft kindlich neugierigen Nachbarn in Kerala.
Der junge Kellner hatte das listige Gesicht des Bärenfängers, und ich beschloß vorsichtig zu sein. Aber seine Spontaneität war nicht gekünstelt. Sie gefiel mir, und ich beantwortete alle Fragen trotz seiner Aufdringlichkeit. "Sie sind also in Trivandrum gewesen?" rief er erfreut, "dort bin ich geboren! Ich bin ein Kerala-Mann."
Immer wieder blieb sein Blick an meiner halbvollen Bierflasche hängen. "Ich arbeite in diesem Restaurant für zweihundert Rupien im Monat. Wieviel Deutsche Mark sind das?"
"Zwölf Mark!" - "Zwölf Mark?" Er schüttelte den Kopf.
Ich fragte: "Bei Kost und Logis, nicht wahr?" Er nickte: "Ich habe im Touristenzentrum Mamallapuram nahe Madras - waren Sie dort? - in der Saison oft 1.800 Rupien verdient!"
Ich erinnerte mich, daß in Pushkar, Rajasthan, eine Tüte Ganja ganze vier Rupien kostete. Also hatte er mit härteren Drogen gehandelt.
"Sie verdienten 1.800 Rupien im Monat?"
"Am Tag! Dann bekam ich Probleme mit der Polizei, es waren Probleme politischer Art, und ich mußte untertauchen. Deshalb bin ich hier! Meine Familie lebt noch in Trivandrum."
"So gehen Sie doch zurück!" sagte ich, "an der Kovalam-Beach können Sie gutes Geld verdienen!"
"Ich weiß es!", sagte er, schüttelte aber bedenklich den Kopf, "ich habe Probleme mit meiner Familie und möchte nicht zurück."
Sein unruhiger Blick blieb immer wieder an der Bierflasche hängen: "Spendieren Sie mir eine Flasche?" Ich schüttelte den Kopf. Dann fiel mir ein, daß das Bier im steuerbegünstigten Pondicherry nur achtzehn Rupien statt der üblichen fünfundzwanzig kostete. Drüben auf der Insel Sri Lanka kostete es sogar achtzig - allerdings ceylonesische - Rupien. Ich sagte: "Wir können uns eine Flasche teilen, wenn Sie möchten, sharing!." Er ließ sich das nicht zweimal sagen, und eilte davon und flugs stand eine zweite Flasche auf dem Tisch.
Ich füllte mein Glas und schob ihm die noch reichlich gefüllte Flasche über den Tisch. Er murmelte: "Hier darf ich kein Bier trinken, denn ich bin im Dienst! Sie verstehen?" Er griff die Flasche und war, ehe ich antworten konnte, über die Hintertreppe nach unten verschwunden.
Dort muß er die Flasche in einem Zug geleert haben, denn er stand wieder vor mir, bevor ich einen weiteren Schluck aus meinem Glas genommen hatte. Vielleicht hatte er mit diesem tiefen Schluck alle seine Probleme für einige Minuten runtergespült, hatte ihm der Alkohol für einen Moment einen Schub gegeben und alle Sorgenfalten geglättet, denn er lachte wie von allen Sorgen befreit, als er sich zu mir an den Tisch setzte.

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