Presseerklärung
des Flüchtlingsrats Berlin, Georgenkirchstraße 69-70, 10249
Berlin
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Gefangener
des Berliner Abschiebegewahrsams mit Herzinfarkt erst nach 24 Stunden
in gefesseltem Zustand in ein Krankenhaus eingewiesen.
Strafanzeige wegen verweigerter Hilfeleistung gegen diensthabende Beamte,
Sanitäter und Polizeiärztin gestellt.
Am 02.12.2001, einem
Sonntag, erlitt ein 27-jähriger Albaner aus dem Kosovo im polizeilichen
Abschiebungsgewahrsam Köpenick einen Herzinfarkt. Die diensthabenden
Sanitäter maßen seinen Beschwerden (Schmerzen, Erbrechen, Atemnot, Kreislaufinstabilität
und Todesangst) nicht die ihnen zukommende Bedeutung bei, verabreichten
ohne Untersuchung falsche Medikamente, informierten weder die zuständige
Polizeiärztin noch den ärztlichen Notdienst von Feuerwehr oder Kassenärztlicher
Vereinigung Berlin.
Erst 12 Stunden nach dem akuten Ereignis, am Montag den 03.12.2001,
wurde der Gefangene in den Mittagsstunden von der nun anwesenden Polizeiärztin
untersucht. Jedoch wurde weder ein EKG gefertigt noch entsprechende
notwendige Laboruntersuchungen veranlaßt oder ein Facharzt zu Rate gezogen.
Erst durch Intervention des anwesenden Anstaltspfarrers, einen Notruf
des Erkrankten an die Polizei außerhalb der Gefängnismauern und seiner
Drohung, durch Legen von Feuer auf seinen desolaten Zustand aufmerksam
zu machen, wurde am späten Abend seine Vorstellung in der DRK-Klinik
Köpenick veranlaßt.
Dort führte die Polizei den Schwerkranken mit auf dem Rücken gefesselten
Händen in der Notaufnahme vor. Erst zu diesem Zeitpunkt, 24 Stunden
nach dem Infarkt, konnte die korrekte Diagnose gestellt werden! Eine
sog.Lyse-Therapie war wegen der bis dahin ungenutzt vergangenen Zeit
nicht mehr durchführbar.
Nicht nur der Chefarzt der Klinik war über die verschleppte Diagnostik
entsetzt. Er stellte gegenüber dem Berliner Innensenator eine erhebliche
Verletzung der sozialen und medizinischen Sorgfaltspflicht durch das
Personal des Abschiebungsgewahrsams fest.
Die Gewährung eines gesicherten Aufenthaltsrechts wenigstens für den
Zeitraum bis zum Abschluß der ärztlich angezeigten Rehabilitationsmaßnahmen
durch die Berliner Ausländerbehörde wurde durch die Vorladung des Herrn
R. zum Polizeiärztlichen Dienst am 18.02.2002 verhindert.
Diejenige Stelle, die durch ihr fachliches Fehlverhalten für seinen
lebensbedrohlichen Gesundheitszustand verantwortlich war, sollte nun
durch die Beurteilung seiner Reise- und Flugfähigkeit sogar die Voraussetzungen
für seine Abschiebung prüfen. Es drängt sich der Verdacht auf, daß der
Ausgang des von ihm gestellten Strafantrages gegen MitarbeiterInnen
des Polizeiärztlichen Dienst nicht mehr abgewartet werden sollte.
* Der Flüchtlingsrat stellt fest, daß sich die medizinische Versorgung
der Inhaftierten im Abschiebungsgewahrsam Köpenick in einem desolaten
Zustand befindet. Dadurch werden existenzielle Rechte der Gefangenen
verletzt.
* Der Flüchtlingsrat erwartet, daß die medizinische Versorgung und die
psychologische und soziale Betreuung der Gefangenen unverzüglich durch
Stellen, die von Innenverwaltung und Polizei unabhängig sind, wie Ärztekammer
oder Wohlfahrtsverbände, sichergestellt werden wird und dabei die freie
Arztwahl gewährleistet wird.
* Der Flüchtlingsrat fordert die Abschaffung der Abschiebehaft. für
den Flüchtlingsrat Berlin
Eberhard Vorbrodt, Arzt. Sprecher der AG Medizin des Flüchtlingsrates
Berlin Tel. u. Fax 030-365 51 69 Funk 0177 481 29 47
Außerdem stehen Ihnen zu weiterführenden Auskünften zur Verfügung:
Ulla Peitz, Ärztin Menschenrechtsbeauftragte der Ärztekammer Berlin
Tel: 030-795 50 39 Fax: 030-797 82 869
Sylvia Frommhold Rechtsanwältin Tel: 030-391 054 70 Fax: 030-391 05
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*** CHRONOLOGIE
Herr R., geb. 1973, Albaner aus dem Kosovo
02.12.2001 23:00 Herr R.befindet sich im polizeilichen Abschiebungsgewahrsam
Köpenick. Aus Wohlbefinden heraus bekommt er plötzlich starke Oberbauchschmerzen
und Atemnot.
03.12.2001 0:57 Zusätzlich zu den nun fast unerträglichen Schmerzen
erbricht er. Weder der diensthabende Polizeiarzt wird gerufen noch der
Notdienst der Feuerwehr oder der KV Berlin. Er erhält vom Sanitäter
Tropfen gegen Übelkeit.
12:30 Erste polizeiärztliche Untersuchung. Kein EKG, keine Laboruntersuchungen,
keine Krankenhauseinweisung oder Konsiliaruntersuchung. Polizeiärztin
verordnet krampflösende Zäpfchen. Weiter anhaltende Schmerzen, blutiges
Erbrechen, Kreislaufinstabilität. Er droht, sein Bettzeug anzuzünden
um dadaurch auf seinen schlechten Zustand aufmerksam zu machen.
21:00 Der Anstaltspfarrer sieht den Gefangenen und versucht, daß eine
Krankenhauseinweisung veranlaßt wird.
21:20 Durch wen (?) wird die Diagnose Bauchspeicheldrüsenentzündung
(Pankreatitis) gestellt.
23:00 Herr R. wird mit angelegten Handfesseln im DRK Krankenhaus Köpenick
vorgestellt. Dort gestellte Diagnose: akuter Herzinfarkt am 2.12.2001.
Therapie: Rekanalisation per Koronarangiografie,
14.12.2001 Entlassung zu seiner Ehefrau
18.(?) 12.2001 Der Ärztekammerbeauftragte im Beirat des Abschiebungsgewahrsams
nimmt Einsicht in die ärztlichen Aufzeichnungen der Polizeiärztin und
informiert die Menschenrechtsbeauftragte der Ärztekammer Berlin.
19.12.2001 Die Menschenrechtsbeauftragte der Ärztekammer recherchiert
bei Herrn R.
06.01.2002 Der Flüchtlingsrat stellt Innensenator Dr.Körting Fragen
zum Vorgang und beklagt das medizinische Fehlverhalten und die strukturellen
Mißstände
09.01.2002 Die Ärztekammer schreibt an Dr.Körting
10.01.2002 IPPNW (Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die
Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.) fordert
gegenüber dem Innensenator die medizinische und psychologische Versorgung
im Abschiebungsgewahrsam Köpenick zu überprüfen. Alle Institutionen
erhalten fast textidentische Antwortbriefe des Innensenators mit dem
Grundtenor, die Verwürfe träfen nicht zu. Antworten auf detailierte
Fragen fehlen. Erwiderungsbriefe bleiben unbeantwortet.
14.01.2002 Dr.Körting berichtet am Rande der Innenausschusssitzung.
Die Diagnostik sei aufgrund des Alters schwierig gewesen.
16.01.2002 Rechtsanwältin Frommhold stellt im Namen des Herr R. Strafanzeige
/ Strafantrag gegen die diensthabenden Beamten und Pfleger sowie die
Polizeiärztin.
24.01.2002 Prof. V., Chefarzt des DRK Krankenhauses Köpenick schreibt
an Innensenator Dr.Körting und beklagt u.a. dass die soziale und medizinische
Sorgfaltspflicht erheblich verletzt wurde.
14.02.2002 Das REHA-Zentrum Ranke attestiert, daß Herr R. für mindestens
3 Monate keinen psychischen und unkontrollierten Belastungen ausgesetzt
werden darf, da derartige Situationen eine Re-Stenose begünstigen könnten.
14.02.2002 Rechtsanwältin Frommhold beantragt Duldungsverlängerung um
3 Monate. 18.02.2002 Herr R. wird zum Polizeiärztlichen Dienst vorgeladen,
damit seine Reise- und Flugfähigkeit überprüft werden kann. Aus gesundheitlichen
Gründen nimmt er diesen Termin nicht wahr.
Berlin, 07.03.2002
*** BEWERTUNG DER EREIGNISSE
Herr R., geb. 1973, Albaner aus dem Kosovo
1. Personal des Abschiebungsgewahrsams:
Das Beschwerdebild wird von den diensthabenden Sanitätern nicht ernstgenommen,
wahrscheinlich sogar als Simulation abgetan. Trotz rapider Verschlechterung
des Zustandes wird vom Personal während wenigstens 12 Stunden keine
ärztliche Hilfe gerufen (diensthabender Polizeiarzt oder Notfallarzt
der Feuerwehr oder Notdienst der Kassenärztlichen Vereinigung). Es wird
vom Sanitäter ein völlig nutzloses Medikament (nach Rücksprache mit
der Ärztin in Rufbereitschaft oder in eigener Verantwortung?) ausgegeben.
Die telefonisch von Herrn R. um Hilfe gebetene Polizei außerhalb des
Gewahrsams greift nicht ein, dafür wird er von Beamten des Gewahrsams
bedroht - mache er dies noch einmal, erhalte er eine Anzeige.
Erst 13 Stunden nach dem Herzinfarkt wird er von der diensthabenden
Polizeiärztin zum erstenmal untersucht, jedoch weder die Diagnose Herzinfarkt
gestellt noch der Verdacht geäußert - dafür symptomatisch mit krampflösenden
Zäpfchen behandelt. Eine nochmalige Konsultation erfolgt leider nicht
mehr.
Erst der Intervention eines medizinischen Laien, des Anstaltspfarrers,
am späten Abend und die Drohung des Gefangenen, Feuer zu legen, führt
zur Vorstellung in einem Krankenhaus. Der Transport dorthin erfolgt
mit auf dem Rücken gefesselten Händen, die erst vom Begleitkommando
nach Aufforderung der diensthabenden Krankenhausärztin gelöst werden.
Es ist unerklärbar, warum sich das polizeiliche Personal durch einen
schwerkranken Mann bedroht fühlte, um diese Fesselung zu veranlassen.
Wahrscheinlicher ist, daß hier Stärke und Einschüchterung signalisiert
werden sollten.
2. Einrichtung der Krankenstation des Abschiebungsgewahrsams:
Dort besteht keine Möglichkeit, ein EKG zu schreiben, zu defibrillieren,
Notfalllaboruntersuchungen durchzuführen und andere Notfallmaßnahmen
einzuleiten. In einer staatlichen Einrichtung, die Platz bis 400 Gefangene
hat, in der Selbstmordversuche, langdauernde Hungerstreiks und die ganze
Palette akuter Krankheiten vorkommen ist dies ein durch nichts zu entschuldigender
Zustand.
3. Dienstplan des Polizeiärztlichen Dienstes:
Nicht zum erstenmal hat es der Sanitätsdienst nicht für notwendig gehalten,
den Polizeiarzt in Rufbereitschaft zu benachrichtigen. Selbst wenn er
dies in diesem Fall getan hätte, wären die Anfahrtswege des Arztes viel
zu lang, um bei einem akuten Herzinfarktgeschehen noch medizinisch korrekt
handeln zu können.
4. Innensenator:
Briefe von Organisationen und Institutionen an die Innenverwaltung,
die Kenntnis dieses Vorfalls hatten, wurden lapidar und ohne auf gestellte
Fragen einzugehen, beantwortet und Kritik an der medizinischen Versorgung
in Abrede gestellt. Es wurde kein Bedauern über den Ausgang ausgesprochen.
5. Ausländerbehörde:
Obwohl der Kliniksbericht und diverse ärztliche Atteste vorlagen, die
für eine wenigstens 3 monatige Duldungsverlängerung plädierten (bis
eine kardiologische Rehabilitation gegriffen hat) wurde der Polizeiärztliche
Dienst von der Ausländerbehörde beauftragt, schon 8 Wochen nach dem
Ereignis die Reise- und Flugfähigkeit des Herrn R. zu überprüfen - also
eben die Stelle, deren Fehlverhalten ihrer Mitarbeiter erst zu dem desaströsen
Zustand des Herrn R. geführt hatte.
Die immer behauptete Objektivität der beamteten MitarbeiterInnen des
Polizeiärztlichen Dienstes wird hier ad absurdum geführt. Es besteht
sogar der Verdacht, daß man vor dem Ausgang des Strafantrages des Herrn
R. durch dessen Abschiebung vollendete Tatsachen schaffen will, die
zur Niederschlagung des Strafverfahrens führen.
6. Sozialbehörde:
Die beantragte medizinische Rehabilitationsmaßnahme wurden bisher nicht
genehmigt.
Berlin, 07.03.2002