Zurück Home Weiter

 

a07

a07.jpg

Bescheidener Maßstab (Lingshui auf Hainan)

 

Das LING LING HOTEL setzte bescheidene Maßstäbe. Aber in diesem grauen Kleinstadt-Ambiente hatten sie immerhin Gewicht. Mit seinen sieben Etagen, den hohen Fenstern mit den blauen Gardinen und der glatten, sauberen Klinkerfassade ragte das Hotel auch optisch hoch aus der Armut der kleinen Provinzstadt heraus. Die holzgetäfelte Rezeption mit den großen Weltuhren an der Wand war ein Blickfang für alle, die nur ein bescheidenes Zuhause ihr Eigen nannten. Da störte es nicht, daß alle Weltuhren immer die gleiche Zeit anzeigten. Die Hotelzimmer waren neu und im hellen Blau gestrichen, und im luftigen, großzügig ausgestatteten Restaurant hingen moderne chinesische Drucke.
Im ersten Stock warben die freundlichen Mädchen im Beauty Saloon um Kunden, und die Disco, das kleine Tanzetablissement im gleichen Stock, war an Wochenenden Treff der Tanzfreudigen. Sie erhob keinen Eintritt im Gegensatz zum Open Air-Tanzsalon vis-à-vis, das zwanzig Pfennig Entree verlangte.

Wer in der Disco die zwei Mark für die Flasche Bier nicht bezahlen konnte, weil er zuvor in der Hotelspielbank sein Geld verzockt hatte, konnte es bei einer Tasse Tee belassen, die immer gratis war. Und wer die Tanzmädchen in ihren schwarzen Kostümen oder mit den kurzen, blauen Röcken und der weißen Rüschenbluse nicht bezahlen konnte, drehte sich mit seinem Freund mit Anstand auf der bunt beleuchteten Tanzfläche.
Sie trugen fadenscheinige graue Anzüge von der Stange, die sie irgendwo aufgetrieben hatten und tanzten im Walzer- oder Slow Fox-Rhythmus vor laufenden Videoclips: Florenz, Rom, Madrid, Santa Lucia - La Paloma, olè! Und auch die Tanzgirls tanzten mangels Nachfrage miteinander, übten Drehung, Stech- und Spreizschritt, und so kam doch eine alle verbindende Harmonie auf. Getrennt tanzte man einträchtig zusammen, drehte man sich, gemeinsam lachend, parlierend und sich zuwinkend im Kreise bei heftigem Geschiebe.