Südindien, Farbimpressionen, 1993, Teil 1 / 1199w
Fotos und Texte von Otto Göpfert

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Hoch hinaus

 

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Es gibt Ereignisse, über die ich lieber den Mantel des Schweigens decke, weil sie zum einen zu peinlich sind, um darüber zu berichten, oder zum anderen einfach zu nichtssagend. Allerweltsereignisse, über die man kein Wort verliert. Die folgende Allerweltsgeschichte hat mich allerdings nachdenklich gestimmt:
Ich war am Anfang meiner Indienreise nach Trivandrum gekommen und hatte ein Zimmer - wenn möglich unter dem Dach, bitte! - im THAITRA-HOTEL verlangt und eine Absteige im 7. Stock bekommen: eine Bleibe knapp unter den Wolken, doch nicht darüber. Fahre ich etwa nicht in Dritte oder Vierte Welten, um zumindest aus luftigen Höhen von oben herab am reichen und vielfältigen Leben der Menschen Vorder- und Südostasiens teilzuhaben? Bereits in jungen Jahren zog ich es vor, nach Schulschluß in alten Kastanien zu hocken, um dort in den Ästen meine Schulaufgaben zu erledigen. Dabei sah ich auf die müden Lehrer herab, die nach dem Unterrichtsende wie unter einer zentnerschweren Last gebeugt nach Hause schlichen.


Ihre Überzeugungskraft reichte immer nur bis zur letzten Unterrichtsstunde. Punkt ein Uhr verhallte der letzte Schlag aufs Katheder, erlosch der Glaube an sich selbst, schrumpfte das Selbstbewußtsein. Bereits auf ihrem Weg zurück in die graue Realität ihres unbedeutenden Daseins holte ihre kleine Wirklichkeit sie ein.
Ich auf dem Baum warf keine Steine auf die Trottel, nicht einmal Kastanien. Dieser Gedanke kam mir damals nicht. Noch hatte ich nicht den teuflischen Einfluß der Pädagogik auf unser aller Leben erkannt, die Schulung für Schlachtfeld, Fließband und Konsumentenwahn. Noch war ich nicht von der Verachtung auf eine Welt der Lüge und der moralischen Heuchelei erfüllt, die mein Leben später in starkem Maß beeinflussen sollte. Die Jugend verurteilt schnell, ist aber auch schnell bereit zu verzeihen. Sie kennt noch nicht die Intoleranz und die eisige Kälte des Erwachsenen, die sie auf ihrem harten Lebensweg später prägen wird.
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