Südindien, Farbimpressionen, 1993, Teil 1 / 1199z
Fotos und Texte von Otto Göpfert

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1199z

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Man soll den Teufel nicht an die Wand malen. Oder nicht zuviel Krieg auf sich ziehen, einem schlechten Traum nicht gestatten, monströse Gestalt anzunehmen und sich in eine höchst bedrohliche Wirklichkeit zu verwandeln. Das meine ich! Denn am nächsten Morgen rückte mir die Wirklichkeit bedrohlich auf den Pelz. Nach dem Frühstück nahm ich einen schrottreifen lokalen Bus in die Stadt, ich weiß nicht mehr, wohin. Vielleicht wollte ich vor meiner Weiterreise nur auf irgendeiner Bank einen Scheck einlösen.
Der alte Bus trug Jahrzehnte auf seinem rostigen Buckel und war überfüllt - ein Anblick, der jedem Indienreisenden vertraut ist. Sein Alter nicht achtend jagte er in halsbrecherischer Fahrt durch die Stadt, bis er plötzlich in einem Stau von Menschen steckenblieb. Draußen flutete eine lärmende Menge vorbei, blockierten im Chor brüllende Gruppen die Straße. Von einem Moment zum anderen drängten die Fahrgäste zur Tür, und bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, war das Vehikel halb leer, und ich war mit einigen Indern allein.
Verdutzt blieb ich sitzen, und tatsächlich fuhr der Bus nach einer Weile langsam wieder an. Kaum in Fahrt gekommen, bremste er erneut scharf, und wie auf ein plötzliches Kommando warfen sich die wenigen Fahrgäste auf den Boden. Dann hörte auch ich das sanfte Siep-Siep der Kugeln wie von summenden Bienchen und das helle Plang-Plang von Pistolenschüssen. Kugeln schwirrten am Bus vorbei und durch die offenen Fenster in den Wagen hinein, und vielleicht blieben einige im dünnen Blech hängen. Ich sprang von meinem Sitz auf und warf mich zwischen die liegenden Fahrgäste. Plötzlich schien der gleiche schreckhafte Gedanke alle zu durchzucken: Im nächsten Augenblick geht im Bus eine Bombe hoch!


Ich erinnerte mich an die Situation vor zwei Jahren in Nordindien, als Bomben explodierten, gelegt von fanatischen Sikh-Anhängern, die Busse und Fahrgäste in die Luft sprengten. Die Mitfahrenden schienen das gleiche zu befürchten, denn sie sprangen auf und rannten zum Ausgang, wobei jeder den anderen zur Seite stieß, die rettende Bustür im Auge. Ich drängte mich nach vorn, und wir sprangen auf die Straße, bevor das Schreckliche passieren konnte.
Von einem Moment zum anderen war es totenstill. Verwundert rieb ich mir die Augen: die Straße war leer, kein Mensch war mehr zu sehen. Die Geschäfte waren in Windeseile geschlossen und die eisernen Jalousien heruntergelassen worden. Allein ein Trishaw, ein dreirädriges Kleintaxi, parkte am Straßenrand. Der junge Fahrer hatte den Motor abgestellt. Auf dem Rücksitz saß eine blonde Touristin, die Reisetasche auf den Knien und wartete mit stoischer Ruhe auf die Weiterfahrt. Ein Bild, das sich mir tief einprägte und mich sofort in die Wirklichkeit zurückholte.
Die Menschen hatten gegen die Regierung und die hohen Lebenshaltungskosten demonstriert und waren vor das Regierungsgebäude gezogen. Soldaten hatten Warnschüsse über die Köpfe der Demonstranten gefeuert und auf den Bus, der in die Demonstranten hineinfuhr. Er war hoch genug, um einige Kugeln abzufangen. Ich beschloß, noch einmal Le Bons großes Werk "Psychologie der Massen" zu lesen, um mir das irrationale "Hinaus aus dem Bus!" zu erklären, das mich übermannt und das logische Denken für einen Moment blockiert hatte.
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